«Man kann das System Russland nicht verstehen, wenn man die Vergangenheit nicht kennt.» Diese Ansicht vertritt der 1981 in Moskau geborene Sergej Lebedew. Der Autor beschäftigt sich seit Jahren mit den dunklen Seiten der russischen Geschichte. Und er verfolgt beharrlich das Ziel, den Schleier des Schweigens zu lüften, der sich «wie der Sarkophag über Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl» senkt.
Das geheime Tagebuch
Zwangsarbeit, Angst vor Verrat und Leben unter falschen Identitäten sind die Themen des Schriftstellers und Journalisten. Bereits 2011 hatte der junge Russe in seinem Debütroman «Der Himmel auf seinen Schultern» von Gefangenen in Sibirien erzählt und von einem ehemaligen Kommandanten eines stalinistischen Straflagers. So hat er den Verstummten eine Stimme gegeben und einen Teil der eigenen Familiengeschichte aufgearbeitet.
Nun setzt Lebedew die Suche nach der Wahrheit fort. Der Putsch 1991 und ein persönliches Erlebnis nimmt er in seinem neuen Roman zum Anlass, ein weiteres Kapitel der jüngeren Geschichte seiner Heimat unter die Lupe zu nehmen.
Im August 1991 hält die ganze Welt den Atem an. In Moskau fahren Panzer ein, der amtierende Staatschef Gorbatschow – ferienhalber abwesend – wird abgesetzt. Der Putsch scheitert. Boris Jelzin wird die Macht ergreifen. Doch der Zerfall der Sowjetunion ist eingeläutet.
In diesen unruhigen Tagen entdeckt der damals 10-jährige Sergej Lebedew in einem Büchergestell seiner eben verstorbenen Grossmutter einen Band mit Lenin-Schriften. Als er darin zu blättern beginnen will, stösst er auf ihr heimlich geführtes Tagebuch. Ein wichtiges Dokument für Lebedew, der sich schon damals mit der Vergangenheit seiner Familie auseinandersetzte. «Einer Geschichte voller Verluste und Traumata», wie der Schriftsteller in einem Interview mit der «Welt» präzisiert.
Lebedews Urgrosseltern waren bürgerlicher Herkunft und hatten deutsche Wurzeln. Um in der Sowjetunion zu überleben, mussten sie – wie die meisten von Lebedews Verwandten – ihre Herkunft zeit ihres Lebens verschweigen. Sie eigneten sich falsche Identitäten an und schafften es trotzdem nicht. «Heute sind sie alle verschwunden und ich stehe alleine da», bedauert er. «Ich fühle mich verantwortlich dafür, ihre Geschichte zu erzählen.»
Die fehlenden Fakten
Das heimliche Tagebuch seiner Grossmutter allerdings bringt dem Autor nicht die vollständige Wahrheit. Zu vieles ist geschönt, zu vieles wird verschwiegen. Doch Lebedew macht eine wichtige Erfahrung: «Das Lesen zwischen den Zeilen durch den Text hindurch – eine echte historische Detektivarbeit», schreibt er im Prolog seines Romans.
Wie ein Fahnder begibt sich Lebedews Romanheld in den frühen 90er-Jahren auf Spurensuche in die Weiten Russlands. Der Ich-Erzähler will wissen, wer sein Grossvater war, der im Tagebuch seiner Grossmutter mit keinem Wort erwähnt wurde.
Die Suche des Protagonisten entpuppt sich als kein leichtes Unterfangen. Die Archive in der damaligen Sowjetunion sind zwar nach langen Jahren wieder geöffnet, doch je mehr der Protagonist erfahren will, umso mehr kommt er in Schwierigkeiten. Er schlägt sich mit allerhand dubiosen Gesellen rum, zieht durch die Weiten Sibiriens und landet in der Hungerwüste «eine riesige schreckliche Leere, eine hungrige Leere, die man vorsichtig anschauen musste – sie konnte einem den Blick austrinken, mit einer einzigen Berührung die Seele zerreissen». Drei Jahre ist er unterwegs in der zerbröckelnden Sowjetunion – ein gesetzloser Bandit, furchtlos und kämpferisch.
Der Geschichte des eigenen Grossvaters kommt er nur bedingt auf die Spur, er verstrickt sich vielmehr in die unmöglichsten Situationen und landet schlussendlich in den Fängen des neuen Geheimdienstes FSB.
Bildstark und explosiv
Es ist keine leichte Kost, die der russische Autor Sergej Lebedew den Lesern vorsetzt. Wie in einem düsteren Roadmovie gehts durch die russische Geschichte des letzten Jahrhunderts: vom Bürgerkrieg Anfang der 30er zum Putsch 1991 bis hin zum Tschetschenienkrieg. Nicht immer ist es einfach, dem Geschehen zu folgen, zumal sich der Autor oft und gerne im Faktenreichtum verliert.
Spannend und hochinteressant wird es da, wo Lebedew die Landschaften Sibiriens oder Zentralasiens beschreibt und von Menschen erzählt, die in diesen unwirtlichen Gegenden überleben. Da dringen die Eindrücke des studierten Geologen durch. Der Sohn zweier Geologen war schon jung mit dabei auf Expeditionen. Bildstark, wortgewaltig und zuweilen explosiv sind seine Ausführungen von der Ödnis, den zerfallenen Lagern und deren Überlebenden. Was manche Leser als ausschweifend und schwülstig betrachten mögen, ist regelrechtes «philosophisches Kopfkino» («Der Spiegel»).
Die russische Seele
Wer sich auf Lebedews Geschichte einlässt, wird zwar nicht immer ganz schlau daraus, erfährt aber viel über die russische Seele – zwischen den Zeilen, notabene. Dem Romanhelden gelingt es nicht, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, genauso wenig wie Lebedew selbst: «Man kann die Vergangenheit nicht mehr aufarbeiten, wenn sie bereits zurückkehrt», konstatiert der Autor im Interview mit der «Welt». «Man denkt heute wieder über Überlebensstrategien nach und nicht darüber, was alles in den 1930er-Jahren stattfand.»
Beeindruckende Worte eines kritischen Geistes, dessen neuer Roman im Herbst 2015 zuerst auf Deutsch erschienen ist, bevor ein russischer Verlag es wagte, das Werk zu drucken – es erscheint in diesen Tagen. Auf die Reaktionen der russischen Leser und der Regierung darf man gespannt sein. Auf die weiteren Romane des Autors noch mehr.
Buch
Sergej Lebedew
«Menschen im August»
268 Seiten
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
(Fischer 2015).