Der feinfühlige Jurist Alex Petersen und seine Frau Rachel führen eine mustergültige Ehe – noch nach Jahren der Gemeinsamkeit. Er gesteht ihr regelmässig seine Liebe. Doch einmal widerspricht sie ihm: «Du kannst mich nicht lieben, nicht richtig. Du kennst mich doch gar nicht, und wenn du mich kennen würdest, würdest du mich nicht lieben, ganz bestimmt nicht.» Kurze Zeit später ist Rachel tot, ermordet im romantischen Park des Worcester College von Oxford, das die beiden als Studenten besucht hatten. Petersen fallen am Abend der Tat zwar zufällig ein, zwei ungewöhnliche Begebenheiten auf. Aber er erkennt im Nachhinein, welch ein unzuverlässiger Beobachter er ist. Und er weiss, dass es im Leben nicht eine Wahrheit gibt, sondern mehrere – je nach Perspektive.
Daraus entwickelt die 40-jährige Schriftstellerin Elanor Dymott eine vertrackte Handlung. Sie verläuft nicht im Sinn eines Krimis, sie beleuchtet vielmehr die Vergangenheit aus der Erinnerung des Protagonisten Alex. In Gesprächen mit einem Tutor erfährt er nach und nach, dass zur Studentenzeit kaum etwas so gewesen war, wie er glaubte. Zum Schluss ist die Mordfrage zwar geklärt, aber die Lösung erscheint unerheblich.
Herzzerreissend
Die Idee zu dieser Geschichte kam Dymott in Florenz. Sie beobachtete ein englisches Paar auf der Hochzeitsreise. Die beiden sassen in einem Strassencafé und konnten ihr Lebensglück kaum fassen. Dymott wurde danach vom Gedanken verfolgt, was geschehen würde, wenn der Mann seine Frau bei einem Unfall plötzlich verlieren würde.
Dieser Roman ist eine lohnenswerte Lektüre: Der Leser erfährt sehr viel über das britische akademische System, über das Leben in Oxford und über die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen.
Elanor Dymott studierte englische Literatur in Oxford. Später bildete sie sich zur Finanzjuristin weiter und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. Daneben ist sie eine begeisterte Flötistin und spielt in einer Jazzband mit. Mit «Bevor sie mich liebte» ist ihr der Durchbruch gelungen. «Eine herzzerreissende Geschichte über einen einsamen Mann, der in einer Beziehung Trost fand und sein Glück zerstört sieht», schreibt der «Independent». Dymott hat sich aller beruflichen Verpflichtungen entledigt und arbeitet als freie Autorin in London.
Elanor Dymott
«Bevor sie mich liebte»
510 Seiten (Kein & Aber 2013).
Fünf Fragen an Elanor Dymott «Niemand kennt den anderen wirklich genau»
kulturtipp: Elanor Dymott, Sie studierten selbst am Worcester College in Oxford. Haben Sie mit diesem Buch Vergangenheitsbewältigung geleistet?
Elanor Dymott: Nein, Worcester College ist nur als Ort des Geschehens in diesem Roman wichtig. Rund um die Gebäude hat es eine verschlungene Gartenanlage mit zahlreichen verborgenen Nischen. Das lädt geradezu zu einem Drama ein. Dazu kommt die Figur des Tutors. Er ist eine Mischung verschiedener Dozenten, die ich in Oxford hatte.
Eine Uni als Tatort eines Mordes war kaum im Sinn Ihrer Lehrer. Wie haben die Ihr Buch aufgenommen?
Sehr positiv, zumindest, was ich vernommen habe. Das sind ja Sprachwissenschaftler und die können zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Zumindest mit einem stehe ich immer noch in engem Kontakt.
Sie sind Juristin, Schriftstellerin und Jazzerin. Wie sind Sie zu dieser Kombination gekommen?
Ich plante das ja nicht, das hat sich so ergeben. Aber es ergänzt sich alles. Zuletzt habe ich als Gerichtsreporterin bei der «Times» gearbeitet, und da erkannte ich viele Parallelen zwischen Gerichtsfällen und Literatur. Es geht in beiden
Fällen darum, Geschehnisse schnell zu erfassen und ihnen eine logische Abfolge zu verpassen.
Die Juristen halten sich an Fakten, Schriftsteller an die Fantasie.
Nein, eben nicht. Bei Gerichtsverhandlungen erkennt man schnell, dass ein Geschehen
völlig anders aussehen kann – je nachdem, wer die Geschichte erzählt. Das ist ja auch ein Thema in meinem Buch. In der englischen Rechtsprechung gibt es übrigens den Begriff «Agreed facts», also Tatsachen, auf die man sich als «wahr» einigt. Das sagt noch nichts über deren effektiven Wahrheitsgehalt aus. Im Gerichtssaal kann man niemandem glauben, weil alle ihre eigene Sicht der Wahrheit verkaufen.
Und in diesem Licht sehen Sie auch menschliche Beziehungen?
Ja, mich interessiert der Prozess der menschlichen Annäherung. Bei einer Begegnung mit einem anderen Menschen verfestigt sich der erste Eindruck. Später hat man immer wieder den Eindruck, jemanden besser zu kennen. Doch kurz darauf stellt man fest, dass dies noch nicht die ganze Wahrheit ist, oder sogar ganz falsch. Genau das passiert meinen Romanfiguren. Ich habe manchmal den Eindruck, niemand kennt den anderen wirklich genau.