Am Morgen tritt Doktor Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolpert auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte. Noch denkt er sich wenig dabei, doch immer mehr tote Ratten tauchen in der algerischen Stadt Oran auf. Es ist die Pest, die sie in ihren Würgegriff nimmt. So fängt der Roman «Die Pest» von Albert Camus (1913–1960) an, der ihn 1947 berühmt gemacht hatte. Zu Recht, wie man beim Wiederlesen dieses beklemmenden, tiefgründigen und dabei alltäglichen Werks sagen muss.
Wie ein Brennglas
Die Epidemie wirkt wie ein Brennglas, unter dem sich die Charaktere der handelnden Personen zeigen. Es gibt zwei Gegenspieler: Den Priester Paneloux, der den Menschen predigt, die Pest sei eine Strafe Gottes, und den erwähnten Bernard Rieux, der sich bis zur Erschöpfung für die Menschen aufopfert. In einer zentralen Szene probieren sie an einem erkrankten Kind ein Serum aus, und werden Zeugen seines fürchterlichen Todeskampfs. Kurz vor dessen Ende liegt das Kind erschöpft da, tränenüberströmt, und nimmt in dem zerwühlten Bett die groteske Haltung eines Gekreuzigten ein. Rieux muss nach draussen, Paneloux folgt ihm. Sagt: «Vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen können.» Rieux reagiert heftig: «Nein, Pater. Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.»
Fünf Jahre früher ist «Der Fremde» von Camus erschienen. Sein Ich-Erzähler Meursault lebt vor sich hin in einem gewissen Gleichmut. Die Mutter stirbt, er beerdigt sie, ohne Trauer zu zeigen. Er lernt ein Mädchen kennen und geht mit einem Freund an den Strand. Es gibt da ein paar Araber, die seinen Freund bedrohen, es kommt zum Streit, doch die Kontrahenten trennen sich. Dann geht Meursault noch einmal zurück. Die Sonne blendet ihn, sie macht Kopfweh, der eine Araber zieht ein Messer. Meursault greift zur Pistole, schiesst und schiesst. Der Fall ist klar: Er kommt ins Gefängnis, wird zum Tod verurteilt, wartet auf die Hinrichtung. Der Gefängnispfarrer besucht ihn, sie streiten, Meursault glaubt nicht an Gott. Dann, nach dem Wutausbruch, es ist schon dunkel, überkommt ihn ein tiefer Friede. «Von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.»
Glasklare Sprache
Muss man die Hoffnung auf ein Höheres aufgeben, um sich der Schönheit der Welt zu öffnen, und um die Menschen wirklich lieben zu können? Camus stellt die Frage in seinen zwei meisterhaften, in glasklarer Sprache geschriebenen Büchern, die man gerne neu liest.
Fernsehen
Mi, 25.12., 11.00 SRF 1
«Sternstunde Philosophie»:
Hundert Jahre Albert Camus – Iris Radisch und Martin Meyer im Gespräch
Albert Camus
«Die Pest»
447 Seiten
Albert Camus
«Der Fremde»
174 Seiten
Beide sind heute erhältlich bei Rowohlt