Der Anblick eines einsamen Fussballs stimmt mich melancholisch. Wie verloren er aussieht, so mutterseelenallein auf dem Rasen. Als dächte er darüber nach, welche Richtung er einschlagen sollte. Doch er ist viel zu rund, um sich für eine bestimmte Richtung zu entscheiden, und ich bin nicht hinterhältig genug, um ihn aus seinen melancholischen Betrachtungen aufzuschrecken.
Keine Zuschauer applaudieren ihm, keine Mannschaft kümmert sich um ihn, kein Junge vermisst ihn. Liegt er, steht er oder sitzt er? Nicht einmal das lässt sich mit Gewissheit sagen, auch nicht, ob er schläft oder nachdenkt.
Betet er?
Ein Fussball lädt dazu ein, getreten zu werden. Ein Fussball zieht seine Feinde geradezu an, es scheint, dass er ohne Feinde nicht leben kann. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Männern und einem Fussball liegt auf der Hand, hätte ich jetzt fast geschrie-ben, wäre mir nicht rechtzeitig eingefallen, dass sich immer mehr Frauen für Fussball begeistern.
Wird die Welt immer maskuliner, kühlt die Seele immer mehr aus, während sich das Klima erwärmt? Vielleicht kommt mir das alles nur so vor, vielleicht bin ich einfach etwas kälteempfindlicher geworden aufs Alter.
Liegt er, steht er oder sitzt er? Ich bin nicht mehr jung, mein Leben hat seine endgültige Richtung, er hingegen hat unendlich viele Möglichkeiten. Doch der Faulpelz rührt sich nicht von der Stelle, genau wie mein träges Söhnchen. Ist das nicht unverschämt?
Kierkegaard, der grosse dänische Philosoph, hat wohl nie Fussball gespielt, aber lange über das Unendliche nachgedacht. Sind die Möglichkeiten unendlich, so ist es im Grunde genommen vollkommen gleichgültig, welche man wählt. Doch auch wenn unsere Möglichkeiten beschränkt sind, ist jede Wahl, die wir treffen, von Angst begleitet, denn in unseren Entscheidungen sind wir allein. Jede Wahl schliesst alle anderen Möglichkeiten aus, vielleicht genau diejenige, die uns gerettet hätte.
Liegt er, steht er oder sitzt er? In unendlich viele Richtungen kann er sich aus dem Staub machen. Eine Hinterhältigkeit, die viele Männer empört. Darum haben sie auf dem Spielfeld zwei Tore errichtet, Regeln erfunden und behauptet, das gegnerische Tor sei das Ziel. Dass diese Regeln vollkommen willkürlich sind, leuchtet ein, aber das stört die Beteiligten nicht. Frauen spielen seltener Fussball, sie kommen mit dem Unendlichen möglicherweise besser zurecht.
Ich war nie gut im Fussball, und wenn die Jungen unserer Klasse die beiden Mannschaften zusammenstellten, wurde ich immer als einer der Letzten gewählt. Weil ich kein guter Spieler war, verliebten sich die Mädchen in der Schule nie in mich. Als mein Schmerz darüber unerträglich wurde, machte ich eine Entdeckung. Auch die Schriftsteller waren Fussballspieler, aber sie spielten nicht mit einem Fussball, sie spielten mit den Worten, als wären Worte nichts anderes als Fussbälle. Und ich entdeckte, dass man den Worten Tritte versetzen konnte, dass man mit ihnen Kopfball spielen oder sie in die eine oder andere Richtung kicken konnte, ich begann, mit den Worten zu dribbeln, bekam die rote oder gelbe Karte oder erreichte Freistösse, manchmal beging ich auch ein Foul. Das Feld, auf dem ich spielte, war unendlich, und mit wachsender Erfahrung verfehlte ich manchmal absichtlich das Tor, weil mir ein Sieg furchtbarer schien als eine Niederlage.
Weil ich mit den Worten Fussball spielen konnte, begannen sie, mich zu trösten. Doch auch sie spielten mit mir und drängten mir ihre Meinung auf, denn sie hatten ihre Herkunft und ihre Nationalität, ihre Sitten und Erfahrungen, und nur in diesem Netz vielfältiger Bezüge begannen sie zu leuchten und gewannen an Bedeutung. Zu dieser Einsicht kam ich allerdings erst, als meine ersten Liebschaften und somit Katastrophen hinter mir lagen.
Wann genau mir dämmerte, dass ich nicht alleine spielte, wie ich anfangs geglaubt hatte, sondern in einer Mannschaft, weiss ich nicht mehr. Die Spieler, die mit mir Fussball spielten, waren andere Dichter, die ich gelesen hatte. Meist blieben sie unsichtbar, denn auch die Dichter, die ich gut zu kennen glaubte, hatten wiederum andere Dichter und Bücher gelesen, die ich nicht kannte. Zu meiner Bestürzung bemerkte ich eines Tages, dass gerade die Dichter, die ich am meisten verehrte, nicht nur in meiner Mannschaft, sondern gleichzeitig auch in der gegnerischen Mannschaft spielten.
Ist ein Fussball parteiisch? Man würde es nicht für möglich halten, so kugelrund wie er ist. Und doch werde ich den Verdacht nicht los, dass er parteiisch ist und den Ausgang eines Spiels heimlich entscheidet. Spielt zum Beispiel Portugal gegen die Schweiz, sympathisiert er sofort mit Portugal, beeinflusst das Spiel auf seine subtile Art, und die Eidgenossen haben keine Chance. Er liebt die melancholischen, verspielteren Portugiesen, wie ja alle Nationen, die von vergangenen Paradiesen träumen, etwas Melancholisches und darum Artistisches haben.
Wir glauben, der Ausgang eines Spiels hänge ausschliesslich von den beiden Mannschaften ab, aber in Wahrheit ist es der Fussball, der ein Spiel entscheidet. Das macht ihn einem Gott gleich, und es ist darum nicht falsch, von der Theologie des Fussballs zu sprechen.
Jürg Beeler
Der 56-jährige Jürg Beeler ist Germanist, arbeitete als Mittelschullehrer und lebt heute als freier Autor in Zürich. Beeler hat Gedichte und Romane veröffentlicht, zuletzt «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (Dörlemann 2014).