Der Roman beginnt mit einem dramatischen Ende. Der linke Journalist Mario wird im Herbst 2010 von Armand Gruber ins Altersheim zitiert. Der hochbetagte Mann, einst Marios Schwiegervater, Deutschlehrer und Hauptmann im Militär, will als ehemaliges Mitglied der P-26 – nach 20 Jahren Schweigepflicht – sein Geheimnis lüften und von seinem Doppelleben berichten. Vor diesem spannungsgeladenen Hintergrund rollt Lukas Hartmann im Roman «Auf beiden Seiten» die Geschichte von Mario und Armand Gruber auf. Er begleitet die beiden Protagonisten, deren Familien und Freunde durch die bewegten Jahre des Umbruchs 1989/90. Und er geht zurück in die 1970er-Jahre. Mario, damals 16, wird zum Lieblingsschüler seines Deutschlehrers Gruber. Doch dessen Sturheit, Härte und Rechtschaffenheit irritieren den sensiblen Schüler, der sich linken Idealen verschreibt.
Lukas Hartmann skizziert die Innenleben seiner Protagonisten haarscharf. Er lässt ihre Ideologien aufeinanderprallen und macht deutlich, wie stark Denken und Handeln den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung von damals prägten. Der 1944 in Bern geborene Schriftsteller schöpfte aus seinem reichen
Erfahrungsschatz. «Überschneidungen mit der Figur Mario sind eindeutig», sagt er im Gespräch mit dem kulturtipp. Hartmann ist mit «Auf beiden Seiten» ein grossartiger Roman gelungen: Er zeichnet seine Figuren einfühlsam und porträtiert eine Schweiz, die weder vor Denunziantentum noch vor der Macht von Ideologien gefeit war.
kulturtipp: Lukas Hartmann, in Ihrem neusten Roman sind Sie selbst ein Zeitzeuge. Schreibt es sich da als Autor anders?
Lukas Hartmann: Ja – und doch nicht. Wenn ich von eigenen Erfahrungen ausgehe, muss ich eine innere Distanz suchen, um sie gestalten zu können. Bei historischen Quellen ist es umgekehrt: Ich versuche, sie mir in allen sinnlichen Facetten zu vergegenwärtigen. Bei beiden Verfahren geht es um die Genauigkeit der Sprache.
Sie stellen Denken, Handeln und Wesen jeder einzelnen Ihrer Figuren sehr differenziert dar. Gelingt dies in jedem Fall?
Nicht immer. Es gehört zum Handwerk des Schriftstellers, sich in seine Figuren einzufühlen, ihrem inneren Antrieb auf die Spur zu kommen. Im Fall eines Gewalttäters ist dies schwieriger, als wenn ich Selbsterlebtes ins Fiktive umsetze. Einen Überschneidungsbereich auch bei den dunklen Seiten gibt es allerdings immer. Goethe hat gesagt, er habe noch nie von einem Verbrechen gehört, das er unter Umständen nicht selber hätte begehen können.
Es gibt Überschneidungen bezüglich Ihres Lebens und dem von Protagonist Mario. Lehrer Gruber aber vertritt eine gegensätzliche Weltanschauung. Wie liessen Sie sich auf ihn ein? Oder anders: Ist jeder Mensch ein bisschen Gruber?
Ich habe mich im Leben mit vielen Grubers auseinandergesetzt. Aber es ist wahr: Ein Teil seiner Verbohrtheit, seiner Uneinsichtigkeit steckt auch in mir. Oft hat ja das, was uns am Gegenüber am meisten ärgert, mit uns zu tun. Die Zeit, in die wir hineingeboren wurden, das soziale Milieu, in dem wir aufwachsen, prägten unsere Haltungen. Wäre Mario 30 Jahre älter gewesen, hätte er sich vielleicht zu einem Gruber entwickelt. Das gilt auch für mich.
Der Verlauf der Geschichte seit den 80ern hat viel Ernüchterung gebracht bezüglich Pazifismus, Ideologien oder Zukunftsvisionen. Inwiefern beeinflussten diese Jahre des Umbruchs Ihr Denken?
Die Jahre 1989/90 kommen mir vor wie eine Verdichtung, wie eine Glühzone der Geschichte – in der Schweiz, weltweit. Zu diesen Jahren führen viele Entwicklungen hin, von ihnen wieder weg. Mich haben sie aufgewühlt, mit Hoffnungen erfüllt, die sich vielfach zerschlugen. Heute sehe ich ein, dass die Weltgeschichte immer in Aufschwüngen, Brüchen, Katastrophen verlaufen ist. Ich glaube nicht, dass sich das ändern wird.
Ihr Roman endet hoffnungsvoll. Sie reden davon, dass heute – genauso wie vor 25 Jahren – der Flügelschlag der Utopie spürbar ist. Was veranlasst Sie zu so viel Optimismus?
So ungebrochen optimistisch ist das nicht. Ich meine den Funken Hoffnung, den wir nicht aufgeben dürfen. Die Hoffnung nämlich, dass trotz allem Gewalt – immer wieder – eingedämmt, Verelendung und Armut überwunden werden können.
Lukas Hartmann über…
- Das Leben in der DDR: «Es war schon bei meinen ersten Besuchen in der DDR ernüchternd für mich zu sehen, mit welchen Alltagssorgen die Menschen zu kämpfen hatten und wie weit die Angst vor der Stasi verbreitet war.»
- Pazifismus: «Den habe ich auch vertreten, allerdings wurde ich durch den Jugoslawien-Krieg desillusioniert.»
- Der Fall der Berliner Mauer: «Damals war ich wie mein Protagonist Mario in Afrika unterwegs, wo ich keine Nachrichten empfangen konnte. Vom Mauerfall erfuhr ich erst bei meiner Rückkehr in die Schweiz.»
- Fichenaffäre: «Erschreckend war, als ich bei der Ficheneinsicht feststellen musste, dass mich meine Nachbarn – aber welche? – denunziert hatten.»
Buch
Lukas Hartmann
«Auf beiden Seiten»
336 Seiten
(Diogenes 2015).
Ab Mi, 25.3., im Buchhandel.
Lesungen
Do, 26.3., 20.00 Kellertheater Riehen BS
Sa, 28.3., 20.00 Kulturhof Schloss Köniz BE
Do, 2.4., 19.15 Aargauer Literaturhaus Lenzburg
Infos: www.lukashartmann.ch