Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat eine Vision: Als engagierter und kritischer Europäer setzt er sich für ein Europa ohne Nationen ein – und verficht die regionale Selbstverwaltung. Diese teilweise umstrittene Idee, die er in seinem Essay «Der Europäische Landbote» (2012) vertrat, baut er auf subtilere Weise auch in seinen neuen Roman «Die Hauptstadt» ein, für den er 2017 den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Darin wirft er einen skeptischen Blick auf die Machenschaften in Europas Hauptstadt Brüssel, wo verschiedene Sprachen, Mentalitäten, Ideologien und Interessen aufeinanderprallen, wo Bürokratie und Karrierismus herrschen. Hier tummeln sich in Menasses tragikomischem Roman EU-Abgeordnete, Wissenschaftler, Holocaust-Überlebende, Kommissare, Schweinezüchter – und Auftragskiller (siehe unten "Vielschichtiger Roman").
Ein rennendes Schwein als Metapher
Eine absurde Szenerie steht am Anfang seines Romans: Ein grunzendes, schmutziges Schwein rennt im Galopp durch Brüssels Strassen – vorbei an den zahlreichen Protagonisten, deren Schicksale Robert Menasse in seinem Roman zusammenführen wird. Vom Schönsten bis zum Hässlichsten bilde dieses Schwein eine Metapher für vieles, sagte Robert Menasse in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur – es steht als Schimpfwort für politische Gegner genauso wie für Intelligenz. Das Schwein veranschaulicht aber auch grundlegende Interessenkonflikte, wie sie in der EU-Kommission täglich hervortreten. Das wird etwa deutlich im Streit der Brüder Susman: Martin als EU-Beamter und sein Bruder Florian als Schweinezüchter verfolgen unterschiedliche Ziele in der Fleischindustrie. In Tom Kühnels Inszenierung im Zürcher Theater Neumarkt werden die Brüder mit filmischen Mitteln von ein und demselben Schauspieler dargestellt.
Robert Menasse hat dem Neumarkt-Team für die Uraufführung freie Hand in der Gestaltung der Theaterfassung gelassen. Regisseur Tom Kühnel, der den Bühnentext mit Neumarkt-Chefdramaturg Ralf Fiedler entwickelt hat, hält sich inhaltlich eng an den verwinkelten Roman: Die Hauptstränge, Protagonisten und die Erzählweise bleiben in reduzierter Fassung bestehen. In der Umsetzung hingegen will Kühnel mit Video-Projektionen, mit Verfremdung oder einem Spiel mit den Genres eigene Bilder finden, die für andere Sichtweisen sorgen. So lässt er den Holocaust-Überlebenden David de Vriend, der für eine Image-Kampagne der EU herhalten soll, etwa von einem Kind spielen. Einerseits lassen sich so dessen frühe Erinnerungen darstellen – als Junge ist er vom Deportationszug gesprungen und konnte sich retten. Andererseits vergegenwärtigt es aber auch seinen jetzigen Zustand: David de Vriend vegetiert in einem Altersheim vor sich hin, wo er wieder zum Kind gemacht wird. Das schlichte Bühnenbild (Jo Schramm) lässt Platz für eigene Assoziationen. Es wird ausschliesslich von Boden-Projektionen bestimmt, die etwa einen Ortswechsel kennzeichnen.
Die Figur von Professor Erhart, der im Roman mit unkonventionellen Thesen auffällt, sieht Kühnel als eine Art Alter Ego des Schriftstellers: «Mit seinem Roman und seinen Essays stellt sich Menasse gegen den Strom der Zeit – gegen die Bewegung zum Nationalismus und gegen die Abschottung. Als ‹Mahner in der Wüste› versucht er, die Vision eines nachnationalen Europas herzustellen. Und er stellt Fragen, die Politiker nicht zu stellen wagen.» Diese Vision zu Europa will Kühnel mit dem siebenköpfigen Neumarkt-Ensemble nun auch auf der Bühne verhandeln – nicht anhand eines trockenen Politseminars, sondern mit viel Poesie, wie er verspricht.
Die Hauptstadt
Premiere: Do, 18.1., 20.00
Theater Neumarkt Zürich
Vielschichtiger Roman
Robert Menasse siedelt seinen von zahlreichen Protagonisten bevölkerten Roman «Die Hauptstadt» in Brüssel an: Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, soll zum 60-jährigen Bestehen das Image der Kommission aufpolieren und beauftragt damit den EU-Beamten Martin Susman. Dieser hat eine zündende Idee: Er sieht «Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Union» und schlägt zum Missfallen seiner Vorgesetzten einen Event mit KZ-Überlebenden vor. Dazu gehört der flämische Holocaust-Überlebende David de Vriend, der in einem Altersheim auf den Tod wartet. Derweil ruft der Wiener Professor Erhart in einem Vortrag zur «nachnationalen Demokratie» auf. Er redet sich um Kopf und Kragen, als er Auschwitz als europäische Hauptstadt bezeichnet – als Antwort auf den kollektiven Gedächtnisverlust. Parallel dazu entwickelt sich eine Krimihandlung: Der religiös motivierte, polnische Auftragskiller Matek Oswiecki hat einen Mann im Hotel Atlas erschossen. Kommissar Brunfaut ermittelt in dem mysteriösen Mordfall – allerdings sind alle wichtigen Infos aus der Datenbank der Brüsseler Polizei verschwunden …