Wie es sich gehörte: die Winter kalt verschneit, die Sommer heiss und verschwitzt. Es gab Orangeade aus der Sparflasche, Joghurt mit Marmelade, Schwarzbrot mit Käse, an Samstagen ein Netz mit Semmeln und dazu Aufschnitt. Fleisch nur am Sonntag.
Es gab Tischtennis, eine riesige Wippe aus einem Holzbalken mit halben Autoreifen unten an den Enden, es gab von der Verwandtschaft geerbte Fahrräder. Es gab Geheimnisse, Verstecke, Geflüster unter Decken, in Sommernächten, wenn es heiss genug war, um auf der Veranda zu schlafen. Sie sagte, er sagte, sie sagte, aber du darfst es niemandem erzählen, schwörst du?! Ja, ich schwöre bei Gott! Es gab langweilige Kirche am Sonntag, Ausflüge den Fluss entlang, Würstel überm Feuer neben dem tosenden Wasserfall. Es gab Ferien im Bergdorf, in der jahrhundertealten Bauernhaushälfte, in der meine Grossmutter aufgewachsen war. Wir keuchten mit den Fahrrädern dort hinauf, wir hatten kein Auto.
Die Grösse der Welt spielte keine Rolle, grösser als von da bis dort oben brauchte sie nicht sein. Erst später wurde die Welt ein kraftvoller Sehnsuchtsort. Raus, raus, raus, weg, weg. Vorerst gab es die Welt nur in den Büchern der örtlichen Bücherei und als Fotos in der «Bunten» der Grossmutter. Ich las darin zum ersten Mal von Hitler, von Hollywoodstars und von abstürzenden Flugzeugen, aber das war weit weg, das konnte uns nicht passieren. Ich las die Geschichte eines abreissenden Stegs über ein Tobel, mit einer Schulklasse darauf, sie wurden an den Felsen zerschmettert; das konnte schon passieren, wenn man zwischen Bergen aufwuchs. Das Meer dagegen war ein Märchen aus einem der Bücher von Astrid Lindgren, ein Bild in der «Bunten», ein blauer Rahmen rund um eine Insel, auf der Gunter Sachs mit schönen Frauen schmuste. Der Mann war von Beruf Playboy, das gab es bei uns auch nicht.
Bei uns gab es Langhaarige, die mit ihren Mopeds herumknatterten, man durfte sie nicht kennenlernen, wenn man nicht wusste, wem sie gehörten. Es war wichtig zu wissen, wem man gehört. Es war wichtig, dass man gehörig ist, anständig, ein Gehöriger, eine Gehörige.
Ich gehörte braven, fleissigen Leuten, die in einer verdächtigen Hütte wohnten, mitten in der reicheren Gegend des Dorfes. Aus den vielen Fenstern konnte man die Villen des Landeshauptmannes und des Bürgermeisters sehen, protzige Trutzburgen gegen Leute wie uns. Meine Eltern stammten aus bescheidenen Verhältnissen, nur dieses Grundstück hatte mein Vater geerbt, darauf bastelten sie mit eigenen Händen ein Haus aus Holz mit flachem Dach, mit der Hilfe von Freunden. Neben dem Bau hatte meine Mutter schon einen Garten angelegt, ihr erstes eigenes Beet, darin wuchsen Bohnen, Paprika, Tomaten und diese merkwürdigen, knackigen, knallgrünen Erbsen, die nichts mit den richtigen Erbsen zu tun hatten, denen aus der Dose.
Das Haus war die Freiheit meiner Eltern, ihre Welt, selbstgeschaffen. Sie waren sehr jung, als sie heirateten, und sie waren immer noch jung, als sie ihre Kinder kriegten, man machte das so, drei in zwei Jahren, später, wenn man es sich leisten konnte, vielleicht mehr.
Als erste, frühe Kinder wurden wir in das Haus unserer Grosseltern hineingeboren, das in vier kleine Wohnungen aufgeteilt war: Im Erdgeschoss lebte die Grossmutter, die polierte, geschwungene Holztreppe hoch lebten wir fünf, oben im Dachgeschoss eine Untermieterin, eine Ledige, und ganz oben, in einer Kammer direkt unterm Dach, hauste der Grossvater, schlief und rauchte dort und kam, wenn ich mich richtig erinnere, nur noch zum Essen zur Grossmutter. Die Grossmutter beherbergte ihren blinden Bruder, eins ihrer zwölf Geschwister, er war übrig geblieben in der Bergbauernhaus-Hälfte. Er war mit einem schlechten Auge geboren worden und verlor das gute bei einem Heu-Unfall. Alle anderen Geschwister, die sich um den hilflosen Bruder gekümmert hatten, waren einer nach dem anderen gestorben, die Grossmutter nahm ihn zu sich, er war ein lieber, gutmütiger, genügsamer Mann, er schlief auf der ehemaligen Betthälfte des Grossvaters, einen anderen Schlafplatz gab es nicht.
Eine Badewanne für alle stand unten im Keller, den ich kalt und feucht in Erinnerung habe. Es gab eine grosse Wiese hinter dem Haus mit einem Kirschbaum. Es gab Himbeerbüsche und Maschendrahtzäune, dahinter Nachbarbuben, man spielte manchmal mit ihnen, meistens waren sie zu doof. Lieber hing ich an den Kniekehlen an der Klopfstange des Wäscheleinen-Gerüstes, mit Celia, meiner besten Freundin, unsere Haare flatterten über der Wiese. Sie war ein Gastarbeiterkind und wohnte oberhalb der Wiese, in einem alten Mietshaus, ihre griechische Mutter strich die Butter viel schöner auf die Brote als meine.
Wir wohnten zu fünft in der Wohnung über der Grossmutter. Erst viel später, als ich schon erwachsen noch einmal in diese Wohnung zurückkehrte, merkte ich, wie winzig sie war. Ich war klein, ich habe diese Wohnung gross genug in Erinnerung. Meine Eltern nicht.
Also begannen sie, das Holzhaus zu bauen, am Anfang der 70er, meine mageren, jungen Eltern. Sie nahmen einen Kredit auf, verkauften das Auto, sparten jeden Groschen, machten alles selber, Freunde und Verwandte halfen mit. Wir Kinder sahen das Haus um uns herum wachsen, ich sah mein eigenes Zimmer entstehen, den riesigen Wohnraum, die Veranda, den Garten. Das Haus hatte ein flaches Dach und riesige Fensterfronten. Die Nachbarn bauten auch: Sie errichteten Zäune um uns herum, um diese Kleinhäusler und ihre wuseligen Kinder. Wer wusste schon, ob das Gehörige waren.
Es war egal. Es war unser Haus, es gehörte zu uns und wir gehörten zu dem Haus und zu der Wiese rundherum. Und zueinander. Fertig war das Haus erst, als ich selbst schon längst ausgezogen war. Aber eingezogen sind wir nach zwei Jahren, 1975. Wir freuten uns alle wie verrückt auf diesen Tag, und ich erinnere mich daran, wie wir uns von den Grosseltern und dem alten Vetter verabschiedeten, alle weinten. Aber dann fuhren wir ins neue Haus, eh nur einen Kilometer weiter und waren: zuhause. In dem Haus, das nur uns gehörte. Am Anfang wohnten wir auf dem rohen Estrich, und das war egal. Es gab Wände, Türen, Fenster, Wasser, eine Heizung, ein paar alte Möbel, die uns Bekannte geschenkt hatten, das reichte. Wir waren zusammen, zuhause, angekommen; gehörig, hier her.
Doris Knecht
Doris Knecht (*1966) ist Schriftstellerin und lebt mit Familie, Freunden und Hund in Wien und im niederösterreichischen Waldviertel. Ihr sechster Roman «Die Nachricht» ist 2021 bei Hanser Berlin erschienen. Sie hat beim «Magazin» des «Tages-Anzeigers» gearbeitet und schreibt Kolumnen für den «Falter» und die «Vorarlberger Nachrichten».