Dieses Knarren muss noch weg. Immer wenn sich die Schauspieler Olga Wäscher und Oliver Losehand auf der Bühne bewegen, ist es zu hören. Bewegen aber müssen sie sich. Denn es soll im Körperlichen zum Ausdruck kommen, was sich abspielt zwischen Dr. Lorna James und Dr. Toby Sealey – ein Eindruck von den Proben für das neue Stück «The Effect» mit der Regisseurin Melanie Osan.
Das Stück der englischen Bühnenautorin Lucy Prebble spielt in der modernen Pharmaforschung. Wie in einem früheren Werk, das von der US-Ölfirma Enron handelte, beweist Prebble ein grosses Geschick, in einer kammerspielartigen Situation gesellschaftliche Fragen zuzuspitzen.
Nachdem Olga Wäscher und Oliver Losehand dies und jenes diskutiert und ausprobiert haben, sind sie die Treppe hinter der Bühne hochgestiegen. Olga Wäscher ist nicht schwindelfrei. Es fällt ihr schwer, ruhig auszuharren, wenn Oliver Losehand hin- und hertänzelt. Doch kommt diese Angst gelegen, denn sie gehört zu ihrer Rolle als Dr. Lorna James.
Der Versuch
Ängstlich klammert sich Dr. James am Geländer fest, so wacklig wie dieser Untergrund ist auch ihr ganzes Leben. Sie war einmal mit Toby Sealey zusammen, dann haben sie sich getrennt – was bei ihr eine Depression ausgelöst hat: Nun leiten diese zwei Ärzte einen Medikamentenversuch, Toby Sealey als Chef, Lorna James als die ihm untergeordnete Leiterin. Und da sind die zwei Versuchskaninchen Tristan (gespielt von Tobias Fend) und Connie (Meda Gheorghiu-Banciu).
Connie ist neu in dieser Pharmawelt, Tristan kennt dagegen die Welt der Medikamentenversuche. Er macht mit, um ein wenig Geld zu verdienen. Beide werden mehrere Wochen immer höhere Dosen eines Antidepressivums schlucken. Sie werden eingeschlossen und sollen sexuell enthaltsam leben, weil Sex die Messwerte verfälschen würde. Das klappt aber nicht, denn der Wirkstoff des verabreichten Medikaments steigert die Ausschüttung von Dopamin, weckt Glücksgefühle und Anhänglichkeit. So verlieben sich die Probanden ineinander, und es geschieht, was nicht geschehen sollte: Sie gehen miteinander ins Bett.
Als Lorna James davon erfährt, dass Connie und Tristan zusammen geschlafen haben, will sie Tristan hinauswerfen. Toby Sealey ist entsetzt. «Das macht keinen Sinn», sagt er und sieht schon die ganze klinische Prüfung in Gefahr. Was als Fachgespräch anfängt, weitet sich rasch aus zur Auseinandersetzung um Sinn und Problematik von Psychopharmaka – und zum persönlichen Konflikt. Diesen tragen Oliver Losehand und Olga Wäscher jetzt oben auf der wackligen Plattform aus.
Zwei Welten
Sie weicht empört, dann verunsichert zurück ans Geländer, setzt sich hin, schaut in die Tiefe. Während Toby seine Firma und ihr Medikament lebhaft verteidigt. So stossen zwei Weltbilder aufeinander, und in ihnen zwei Lebensgeschichten. «So ist es gut», sagt Regisseurin Melanie Osan, nachdem sie die immer stärker ins Private hinüberdriftende Auseinandersetzung mehrmals unterschiedlich gespielt haben. Sie führt zum ersten Mal Regie, nach drei Jahren als Regieassistentin am Theater St. Gallen. Aufgewachsen ist sie in Rumänien, die Mutter gehört der deutschsprachigen Minderheit an. Die Lehrer haben ihr gesagt, die Welt sei jetzt offen, das hat sie beherzigt – sie und ihre ganze Generation. «So habe ich mich entschieden, nach dem Abitur in Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaften zu studieren», erzählt sie. Selbstverständlich war diese Wahl nicht, in ihrer Familie gibt es keine Künstler. Sie aber ist Theatermensch mit Leib und Seele. «Man kann auf der Bühne so viel ausdrücken, was anders nicht geht», sagt sie.
Wie hier in «The Effect», wo es um die Chemie der menschlichen Gefühle geht, um ihre Echtheit – darum, was mit Menschen unter dem Einfluss von Psychopharmaka geschieht. Und was es heisst, «normal» zu sein. Ist es die Chemie, die Connie und Tristan zusammenführt? Oder ist es vielmehr Zuneigung, seelische Verbundenheit? Das sind grosse Fragen, virtuos gebündelt in einem Vier-Personen-Stück.
The Effect
Premiere: Sa, 19.12., 20.00 Lokremise St. Gallen