Wichtigste Eigenschaft einer Technik war für Henri Michaux (1899–1984) der ungehinderte Fluss des Malvorgangs. In den beiden unbetitelten Werken fliessen die Farben, als ob sie noch nicht getrocknet wären. Der Künstler und Dichter Michaux malte sie zwar als älterer Mann, aber die Lust an der Bewegung hatte er nie verloren.
Dieter Schwarz, Direktor des Winterthurer Kunstmuseums, hat eine persönliche Affinität zu Michaux, der zu Lebzeiten viel bekannter war als heute. Schwarz fand den Zugang über die französische Literatur zu Michaux und erwarb im Lauf der Zeit Bilder für die Sammlung des Hauses. Nach Jahren der Absenz in der Schweiz ist dieses Werk nun unter dem Titel «Momente» neu kennenzulernen.
Reiz der Buchstaben
Der im belgischen Wallonien geborene Michaux ist zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem bürgerlich-konservativen Haus aufgewachsen. «Teilnahmslosigkeit. Appetitlosigkeit. Widerstand. Desinteressiert. Er meidet das Leben, die Spiele, die Zerstreuungen und die Abwechslung», schrieb Michaux in einer knappen Autobiografie später über seine Kindheit. Um der Leere zu entfliehen, entdeckt er den Reiz der Buchstaben: «Wörter, die noch nicht den Sätzen gehören, noch nicht Phrasendreschern …» Michaux beginnt auf Drängen des Vaters ein Medizinstudium, bricht es ab und heuert 1929 als Matrose an auf einem der letzten grossen Segelschiffe.
Er durchfährt zwei Jahre lang die Weltmeere und erlebt – zurück in Brüssel – eine Erleuchtung ungewöhnlicher Art: Michaux liest die düsteren Gesänge des «Maldoror» des Franzosen Lautréamont – ein heute kultisches Buch über die Faszination des Bösen. Die Lektüre animiert Michaux zum Dichten, er empfindet seine Arbeiten jedoch als unbefriedigend.
Sein 13-teiliger Text «Plume», 1938 erschienen, gilt als sein literarisches Hauptwerk: Eine Sammlung grotesker Lebens-konstellationen, in denen ein Monsieur Plume sich als federleicht erweist und von den Umständen treiben lässt. So gerät er in ein höllisches Chaos, nachdem er in einem Restaurant ein Kotelett bestellt hat, das auf der Speisekarte nicht angeboten wird. Der deutsche Literaturkritiker Peter Hamm schrieb in der «Zeit», der Leser von Michaux’ Texten komme sich «prinzipiell zu dumm vor».
Die Kunst von Henri Michaux ist zumindest auf den ersten Blick verständlicher. Der zweifelnde Dichter kommt über Paul Klee sowie Max Ernst zur Malerei – und er haut erneut ab. Diesmal ein Jahr lang nach Lateinamerika. Ab Mitte der 30er-Jahre malt Michaux ernsthaft und entsagt dem Schreiben weitgehend: «Wenn ich male, dann weiss ich, dass ich male … Aber schreiben? Weiss man, wann man schreibt? Man schreibt immerzu – beim Gehen, beim Schlafen», wird der Künstler im Winterthurer Katalog zitiert.
Henri Michaux’ Arbeitsprozess muss man sich als eine Art Trip vorstellen. Seine Mal- und Zeichnungssitzungen dauerten 36 bis 48 Stunden ohne Unterbrechung. Dann fühlte er sich leer, hatte sein Malbedürfnis gestillt – bis es sich erneut meldete.
Meskalin-Experiment
In den Kriegsjahren lebt er an der Côte d’Azur und in Paris. In dieser Zeit ist Michaux verheiratet, doch seine Frau stirbt schon 1948 nach einem Unfall.
Kunstkenner verbinden Michaux heute mit seinen Drogenerfahrungen, die er in den 50ern hatte: Er wollte seine künstlerische Leistung unter dem Einfluss von Meskalin kennenlernen. Mit dem etwas älteren Schriftsteller und Publizisten Jean Paulhan nahm er im Januar 1955 erstmals Meskalin ein und hielt die Wirkung des Stoffs in Zeichnungen fest: «Solche von ihm als anstrengend, gar quälend empfundenen Experimente setzte Michaux in den folgenden Jahren hartnäckig fort», schreibt Schwarz im Museumskatalog. Michaux war kein hedonistischer Drogenkonsument, sondern stets ein Asket, der um die Erweiterung seines Bewusstseins kämpfte.
Und das Ergebnis? Michaux hielt fest: «Das Meskalin liess mich erkennen, dass ich mich oft mit wenig zufrieden gab. Ich ärgere mich heute darüber, dass ich mir selber zu oft untreu war. Früher war mir das egal …»
Das sind seltsame Worte eines Menschen, der sich nichts schenkte, sondern Entbehrungen zu suchen schien und ständig mit sich sowie seiner Kunst kämpfte – und sich kaum je zufrieden gab. Michaux war ein Suchender, wie er in seinem Bekenntnis zur Kunst schrieb. Er male, «um die Rhythmen des Lebens darzustellen, und falls dies möglich ist, die Schwingungen des Geistes selbst». Ein ambitiöser Anspruch.
Henri Michaux – Momente
Sa, 7.9.–So, 24.11.
Kunstmuseum Winterthur