Dieser «Buckel», wie ihn Regisseur Beat Bieri nennt, ist ein spezieller Ort: Der Oberaxen, 1000 Meter über Meer und hoch über dem Urnersee gelegen, ist nur zu Fuss oder mit der Seilbahn erreichbar. Das Verkehrsmittel gehört zu den windexponiertesten des Landes: Wenn der Föhn zu stark bläst, bleibt die Bahn stehen. Unten am See führt die Gotthardbahnlinie durch, ebenso die Axenstrasse, früherer Auto-Hauptverbindungsweg von Norden nach Süden. Oben auf dem «Buckel» transportieren drei landeswichtige Starkstromleitungen Energie durch den Kanton. Auf dem Oberaxen betreibt die achtköpfige Familie Gisler ihren Landwirtschaftsbetrieb mit Kühen, Schafen und Ziegen sowie etwas erhöht die Gastwirtschaft mit Terrasse und imposantem Panoramablick ins Urnerland.
Mit der Sense im fast senkrechten Gelände
Im Gebiet Rophaien, an dessen Flanke der Oberaxen liegt, geht es im Sommer mit dem Vieh 400 Meter weiter hinauf auf die Franzenalp. Auf dieser Höhe liegt auch die «Wildi». In den steilen Abhängen, «Planggen» genannt, wird mit der Sense gemäht, stellenweise in fast senkrechtem Gelände. Wer hier arbeitet, schnallt Steigeisen um. Jeder kennt das Risiko und weiss, wie gefährlich die Arbeit im Hang ist – «Es send scho Lüüt z’Tod troolet», sagt Josef «Sepp» Gisler im Film. Er selber ist seit über 40 Jahren ein erfahrener Wildheuer.
Bis es am 31. Juli 2016, ein Sonntag, passiert: Sepp Gisler rutscht während des Heuens aus, schlittert talwärts und stürzt über eine Felswand 300 Meter tief in den Tod. «Er konnte nie tiefer fallen als in Gottes Hände.» Mit diesem Glauben findet die Witwe ein wenig Trost. Regisseur Beat Bieri erzählt im Gespräch, dass er bei Dreharbeiten beinahe selber abgestürzt wäre. In letzter Minute konnte er im Hang aufgefangen werden.
Die Tradition des Wildheuens führt inzwischen Sepp Gislers jüngste, 22-jährige Tochter Pia mit ihrem Lebenspartner weiter. Sie hatte sich auf einem auswärtigen Hof zur Landwirtin ausbilden lassen.
«Das Dokument einer Bauernkultur»
Das tragische Ereignis hatte Auswirkungen auf die Filmarbeiten. Während dreier Jahre, ab 2012, war Regisseur und Kameramann Beat Bieri immer wieder auf dem Oberaxen drehen gegangen. Weil es auf den Kinoleinwänden wie im Fernsehen gerade eine auffällige Häufung von Alp-Filmen gab, entschied SRF, den Film vorläufig ruhen zulassen. Das neue Ziel war, zuzuwarten und die Dokumentation beim Generationenwechsel in der Familie Gisler fertigzustellen. Dann kam 2016 das Unglück dazwischen.
Beat Bieri hat die letzten Filmaufnahmen schliesslich ein Jahr nach dem tödlichen Unfall, im Sommer 2017, gemacht. Am Ende sieht man, dank Drohnen-Kamera, das Wildheu-Gebiet von oben: die schöne, wilde und lebensgefährliche Natur.
Auf sein Filmthema war der Regisseur durch eine Reportage des Journalisten Erwin Koch gestossen. Es sollte ein Porträt und eine Langzeitbegleitung werden, «das Dokument einer Bauernkultur», wie Bieri sagt – mit besonderem Fokus auf die Tradition des Wildheuens.
Ein Stier in der Seilbahnkabine
Die Filmbilder bieten Einblicke in den landwirtschaftlichen Alltag auf dem Oberaxen. Schafe werden geschert und Ziegen gebadet. Sepp Gisler muss einen 350 Kilo schweren Stier in der engen Seilbahnkabine ins Tal transportieren. Im Schlachthof werden aus dem Muni 120 Kilogramm Biofleisch. Man nimmt an einem Fest teil, bei dem der Vater, zeitlebens ein bekannter Schwyzerörgeler, mit zwei seiner Kinder im Ländlertrio aufspielt. Mit Sohn Dominik, der am Down-Syndrom leidet, geht Vater Gisler gegenüber vom Oberaxen auf die Eggberge skifahren.
Die Gislers decken in der «Wildi» den Bedarf ihres Landwirtschaftsbetriebs mit eigenem Heu. Was bedeutet, dass sich der Viehbestand an die jeweilige Ernte von in der Regel 30 Tonnen anpasst. Gislers Bauernbetrieb kommt ohne Futtermittelzusatz aus. Bevor es ans Mähen geht, wird das Gelände jeweils «geschönt»: Die wilden Wiesen werden von Altholz und Steinen gesäubert.
«Der Wildheuer» ist der letzte von 50 Dokumentarfilmen, die Beat Bieri als festangestellter SRF-Mitarbeiter realisiert hat. Am Tag nach der Ausstrahlung geht er in Pension.
Der Wildheuer – Senkrecht über dem Urnersee
Regie: Beat Bieri
50 Minuten
Do, 1.3., 20.05 SRF 1
In der Urner «Wildi»
Wer in Uri wildheuen geht, wie der im Film porträtierte Josef Gisler, tut es in der «Wildi»: So heisst das unwegsame Gelände, wo das Heu geschnitten wird. Die Seilbähnchen, die eine bis zu 70 Kilogramm schwere Heumenge in Netzen («Bürdeli» oder «Pinggel») ins Tal transportierten, sind nicht mehr in Betrieb. Helikopterflüge haben die Aufgabe übernommen. Das Gebiet lässt sich auch erwandern auf dem markierten und mit Erlebnisstationen kommentierten Wildheuerpfad, der oberhalb von Flüelen zwischen den Eggbergen und dem Oberaxen liegt. Am Rophaien erstreckt sich mit gut 70 Hektaren eines der grössten Wildheugebiete der Schweiz. Als Besonderheit präsentieren sich im Sonderwaldreservat die Föhren- und Fichtenwälder, wo eine Wald-Weide-Bewirtschaftung erhalten ist. Das Wildheuen in diesem Gebiet dient der Futtermittelgewinnung, fördert die Artenvielfalt und hilft, eine Verwaldung der Wiesen zu vermeiden sowie Kulturland zu erhalten.
Ein informatives Gratis-Wildheuerpfadbüchlein und eine Karte des Rophaien-Gebiets gibts als Gratis-Download: www.uri.info/de/ } wunderwelt } gruppenangebote } wildheuerpfad.