Das ganze Dorf ist da, um sich von Rudolf Lüthi zu verabschieden. Er umarmt und küsst seine Familie, Tränen fliessen. Der Zimmermann aus dem bernischen Leuzingen will nach Amerika aufbrechen. Dort, im Wilden Westen, wo neue Dörfer und Städte förmlich aus dem Boden schiessen, werden Zimmerleute gebraucht, hofft er. Rudolf verlässt seine Heimat aber nicht nur aus wirtschaftlicher Not. Sondern auch, um seinen Liebeskummer zu vergessen.
Finanzieller Druck
Diese Abschiedsszene ist eine Episode aus dem Filmprojekt «Übersee». Von dessen Entstehung wiederum handelt das Stück «Im Wilden Westen», das die Gruppe Theaterfalle unter der Regie von Ruth Widmer und Sarah Gärtner im alten Basler Güterbahnhof St. Johann inszeniert.
Mathis Künzler und seine Film- und Bühnenpartnerin Dominique Lüdi spielen Doppelrollen in dieser Produktion: Im Frühling drehten sie die Szenen für «Übersee» – jetzt stehen sie als Simon und Franca im Stück «Im Wilden Westen» auf der Bühne. Sie sind Teil einer Filmcrew, die ihren angefangenen Film fertigzustellen versucht. Das ist allerdings nicht ganz einfach, denn das Team steht unter grossem finanziellem Druck: Der lokale Geldgeber, Herr Galliker (Heinz Margot), mischt sich zunehmend in ihre Filmarbeit ein und droht, den Geldhahn zuzudrehen, wenn die Regisseurin Irene (Sandra Moser) nicht macht, was er will.
Grenzen verteidigen
Ruth Widmer, die künstlerische Leiterin der Theaterfalle, erklärt, wie das Stück funktioniert: «Zuerst haben wir beim alten Bahnhof Leuzingen die Szenen für Irenes Film ‹Übersee› gedreht.» Diese werden ins eigentliche Theaterstück eingebaut, das in der Halle des Güterbahnhofs aufgeführt wird.
Das Stück lebt vom Konflikt zwischen Irene und Herrn Galliker. Ihm gehört das ganze Gelände des stillgelegten Bahnhofs. Er finanziert zwar das Projekt, bringt Irene aber durch seine Einmischungen in ein Dilemma. «Die entscheidende Frage ist, wie weit Irene gehen wird», sagt Widmer. «Wird sie für ihren Traum ihre Seele verkaufen?»
Im Stück von Ruth Widmer und Paul Steinmann geht es um Grenzen. Um persönliche ebenso wie um geografische Grenzen. Um die Frage, wo und wie man sie setzt und wie man sie verteidigt. Die Siedler damals im Wilden Westen standen Pate für diese Idee: «Leute wie Rudolf Lüthi kamen nach Amerika und ‹claimten›, das heisst, sie besetzten Land und mussten es verteidigen.» Genauso muss sich Irene für ihre Idee engagieren, und ebenso kann ein Magnat wie Galliker kommen und ein ganzes Gelände aufkaufen, es umgestalten und damit machen, was er will.
Verwildertes Gelände
«Die Situation im Theaterstück widerspiegelt die Situation des St. Johann Quartiers. Seit Firmen wie Novartis hier eingezogen sind, hat sich alles stark verändert», sagt Widmer. Früher war das St. Johann ein lauter, dreckiger Durchgangsort, die Leute mussten sich Nischen suchen, um dort zu leben. Heute ist der Verkehr beruhigt, neue Wohnblocks mit teuren Wohnungen stellen alte Häuser und Industrieanlagen in den Schatten. 2017 soll hier das Naturhistorische Museum hinkommen, «um das sterile und leblose Quartier aufzuwerten», erklärt sie. Einige der Gebäude werden darum bald abgerissen.
Bevor das geschieht, benutzen Widmer und der Autor Paul Steinmann die Baracken und Schuppen als Schauplätze für ihr Stück. Sie wollen den Zuschauern die Gelegenheit geben, sich diese wunderbaren alten Bauten auf dem verwilderten, fast gespenstisch anmutenden Gelände anzuschauen, bevor sie für immer verschwinden.
Tour für Zuschauer
Darum beginnt ihr Stück draussen bei den Gleisen als eine Art Führung durch das Gelände. Unter einer Brücke beim ehemaligen Heizungshaus des Bahnhofs wird Herr Galliker von einem Baugerüst herab eine Ansprache halten und Werbung machen für «Westlife», seine Fabrik für Bio-Fruchtsäfte. Galliker steht für Investoren wie Novartis. Er will hier bauen, Arbeitsplätze und Wohnraum schaffen. Damit das gelingt, muss er die Bevölkerung dazu bringen, ihn zu mögen. Deshalb veranstaltet er einen Tag der offenen Tür, um zu zeigen: Das gehört alles mir, aber ich stelle es euch zur Verfügung.
Die Tour führt die Zuschauer an mehrere Schauplätze in den baufälligen Gebäuden. Eines davon ist eine Remise, in der sich zwei Musikerinnen scheinbar angesiedelt haben. Ihre Musik hat eine kommentierende Funktion, erzählt aber auch einen Teil der Handlung. «Wir stehen für die Fremden, die irgendwo ankommen und Raum für sich einnehmen, Einheimische vielleicht stören, aber auch faszinieren», erklären die Musikerinnen Christina Volk und Ursina Gregori zwischen ihren Instrumenten und Requisiten sitzend.
Alle diese Fäden, die draussen gesponnen werden, laufen am Ende auf der Bühne in einem traumähnlichen letzten Akt zusammen – einer Art grossem Showdown. Ganz wie im Wilden Westen.
«Im Wilden Westen»
Do, 8.8.–Sa, 5.10., 19.30
Jeweils am Do, Fr, Sa
Stellwerk St. Johann, Vogesenplatz Basel
www.theaterfalle.ch