Der Schweizer André lebt in Berlin und will seiner ostdeutschen Freundin Louise seine Heimat, speziell die Berge, zeigen. Geplant ist eine anspruchsvolle Bergwanderung auf einen nicht genannten, aber ohne Zweifel hoch gelegenen Gipfel. Das Unterfangen wird Monate im Voraus gut organisiert und soll ein bisschen romantisch werden, mit Schlafsack im Zelt und Nudeln vom Gaskocher. Mit dieser ins Extreme tendierenden Unternehmung wollen die beiden ihre Liebe vertiefen, gemeinsame Erinnerung schaffen, die hält und fürs Leben verbindet.
Die Expedition steht unter einem schlechten Stern. Das Wetter ist mies, die Route steil, die Stimmung verdorben – und in der Beziehung knirscht es. André will sich beweisen und weiter hinauf, Louise ist vorsichtiger und möchte hinunter. Der Gegensatz ist unüberbrückbar.
Irgendwo unterwegs, «als Louise mit ihrem nackten Hintern auf dem Felsen hin und her rutschte», haben sie schnellen Sex. Versöhnung, fast. Dann läuft alles aus dem Ruder. Die Wanderung kippt ins Bergdrama, die Romantik ins Beziehungsdrama. Entfremdung statt Annäherung. «Nun war er froh, dass Louise auf sich warten liess, so hatte er seine Ruhe vor ihr.» Liebe tönt anders. Die Expedition stellt die Beziehung von André und Louise auf eine Probe, die – man merkt es schnell – nicht zu bestehen ist. Wenn da überhaupt einmal Gefühle waren.
Sprachmächtig
Mit «Herr Blanc» hat Roman Graf vor vier Jahren Furore gemacht und ein paar Preise abgeräumt. Seither publizierte der Winterthurer mit Wohnsitz in Berlin ein viel besprochenes Lyrikbändchen. Jetzt seziert Graf Andrés abgründige Psyche, die von Liebe zu Hass kippende Gefühlslage mit einer präzisen und dichten Sprache, so kühl und distanziert, dass es einem beim Lesen bisweilen kalt den Rücken runterläuft. Der Autor ist, wie er bereits früher gezeigt hatte, ein Spezialist für die Beziehungsgeschichten von unvollständigen Menschen.
Wie André einer ist: Er trauert verpassten Chancen nach, ohne sich jedoch Fehler einzugestehen. Seine Lebensentscheidungen werden zu unübersichtlichen Geflechten, in denen er sich mit Louise verheddert. Bis sie sich verweigert. André ist, wie «Herr Blanc», ein Sonderling, der weder mit sich noch mit seinem Leben klarkommt, zu seinen Mitmenschen keinen Draht findet und letztlich an seinen eigenen Ansprüchen scheitert.
Während sein Held André also in der Sprachlosigkeit versinkt, ist Roman Graf selber ungemein sprachmächtig. Wenn er André sinnierend und innerlich fluchend den Berggrat hinaufmarschieren lässt, ist man förmlich dabei. Sieht den schmalen Weg, die Steine, den Grat, das Schneefeld und spürt fast, wie der Nebel aufzieht.
Im Aufstieg auf den namenlosen Gipfel erzählt «Niedergang» eine Parabel von der Egomanie eines Mannes, der an seiner eitlen Ichbezogenheit zugrunde geht und es bis zum bitteren Ende nicht merkt. Und die Geschichte streift das grosse Paarthema über die unmögliche Verständigung von Mann und Frau. Anders als die Ratgeberliteratur versucht sich Graf aber nicht in Erklärungen. Er konstatiert nur – und das ist gut so.
Roman Graf
«Niedergang»
205 Seiten
(Knaus Verlag
München 2013).