kulturtipp: Wie sehen Sie den Schweizer Nationalhelden?
Michael Horn: In dieser Inszenierung ist Tell zum Glück ein «Held wider Willen». Er will weder den Apfel vom Kopf seines Knaben schiessen, noch Gessler aus Mordeslust umbringen. Er wird dazu gezwungen. Ich sehe Wilhelm Tell nicht als Nationalhelden. Er spielt einfach die Hauptrolle in einem Theaterstück von Friedrich Schiller.
Ist die Tell-Verkörperung für Sie nichts Besonderes?
Doch, gerade weil an Tell der Status des Nationalhelden klebt. Für mich ist es eine Ehre, diese Figur zu spielen, die nicht Held sein will. Dies auch, weil ich der erste Tell bin, dessen Vater dieselbe Rolle ab 1979 besetzt hat. Zudem ist das Stück zeitlos. Es ist inhaltlich aktuell, obwohl es mehr als 200 Jahre alt ist. Viele Länder würden heute einen Tell oder ein entsprechendes Pendant verdienen.
Sie sprechen während einer Saison immer denselben Text. Kommt da keine Langeweile auf?
Nein, denn das Originalstück würde fünf bis sechs Stunden Theaterstoff liefern. Es lässt sich auf unendlich viele Arten interpretieren. Und jedes Jahr gibt es wieder Änderungen.
Welches ist die grösste Herausforderung an dieser Rolle?
Die Geschichte in jeder Aufführung neu zu erleben. Nach der viermonatigen, sehr intensiven Probezeit sind einem der Text und die Interpretation vertraut. Gerade deshalb ist es wichtig, Emotionen stets neu zu wecken, um in seiner Rolle glaubwürdig zu wirken.
Haben Sie mit Tell etwas gemeinsam?
Ich habe zwei Kinder im ungefähr gleichen Alter wie sein Sohn. Sonst eigentlich nicht sehr viel. Ich kann seine Reaktionen nachvollziehen, weiss aber nicht, ob ich gleich reagieren würde.
Die Sprechtexte sind anspruchsvoll. Wie kommen Sie damit zurecht?
Als ich vor 35 Jahren den Willy und später den Walter spielte, konnte ich den Text meines Vaters «aufsaugen». Er hat sich mir eingebrannt. So fiel es mir relativ leicht, diesen vor drei Jahren neu zu lernen. Am schwierigsten ist es, den eingebrannten Text aus der vorherigen Saison zu vergessen. Während der Saison spreche ich auf dem Arbeitsweg fast täglich irgendeine Szene für mich durch. Ich persönlich habe kein Problem mit der schillerschen Sprache. Wie viel die Zuschauer im Detail wirklich verstehen, kann ich aber nicht sagen. Eine inhaltliche Herausforderung ist sicher der Satz «In gärend Drachengift hast du die Milch der frommen Denkart mir verdorben» aus Tells Monolog im Tyrannenmord.
Ist bei einer Aufführung schon einmal etwas schiefgegangen?
Die Angst, dass der Pfeil beim Apfelschuss zu früh abgeht, ist immer da. Zum Glück ist dies bisher nur bei den Proben passiert. Den grössten Respekt habe ich vor einem Text-Blackout im Tyrannenmord. Dort bin ich praktisch auf mich alleine gestellt und kriege keine Hilfe von den Spielpartnern.
Ist Ihnen eine Aufführung speziell in Erinnerung geblieben?
Letztes Jahr bei der Derniere realisierte der Walter während des Stücks, dass es seine letzte Aufführung in dieser Rolle sein würde. Von diesem Augenblick an war das Schauspiel sehr intensiv. Und während einer Schüleraufführung stand der bereits verstorbene Attinghausen wegen des Lärms auf der Tribüne auf. Er teilte dem Publikum mit, dass man zu spielen aufhöre, wenn es nicht wieder still würde. Dann sank er zurück auf seinen Stuhl und war wieder tot. Da wurde es augenblicklich still, und der Applaus am Schluss des Stücks war entsprechend laut.
Bleibt die Rolle des Tells auch in der dritten Generation in der Familie?
Momentan sieht es nicht danach aus. Der Aufwand für die Familie wäre zu gross. Denn am nächsten Morgen müssen die Kinder ja rechtzeitig aufstehen, um in die Schule zu gehen.
Welche Rolle möchten Sie als Nächstes spielen?
Wenn ich reiten könnte, am liebsten den Landvogt Gessler. Es macht Spass, einen Bösewicht zu spielen!
Michael Horn
Der Laien-Schauspieler arbeitet als Fachbereichsleiter Autoimmun-Diagnostik im Berner Inselspital. Während der Freilichttheater-Saison absolviert er jeweils zwischen 30 und 40 Proben und ungefähr 17 Aufführungen als Wilhelm Tell und Statist. Als sein Vater bei den Interlakner Tellspielen ab 1979 die Rolle des Tells verkörperte, stieg Michael Horn als Willy ein. Insgesamt spielt der Biologe nun schon 23 Jahre in Laien-Theatern mit und verkörperte in Interlaken bereits Willy, Walter und Wilhelm Tell sowie den Fischerbub, Stüssi und Melchtal. Michael Horn ist 43 Jahre alt, zweifacher Familienvater und wohnt in Thun.