Der nackte Kleine ist mehr als zwei Meter gross. Er hält einen Frosch am Schenkel, sodass jedem Tierfreund das Grausen kommt. Charles Ray hat die Figur «Boy with Frog» (2009) mit klassizistischem Flair in Venedig an prominenter Stelle direkt am Meer ausgestellt. Sie schlägt einen Bogen von der künstlerischen Tradition der Stadt mit ihrem Marmor zur Gegenwartskunst – oder tat dies zumindest bis vor einem Jahr. Das Werk erhitzte kunstaffine Venezianer. Empörte übten gar Farbanschläge auf den armen Jungen aus – Amphibien-Liebhaber, ästhetisch Unterbelichtete oder gedankenlose Barbaren? Als den Behörden der Geduldsfaden riss, musste eine Weile lang ein Polizist Wache schieben, um Schlimmeres zu verhindern, was zu einem Aufstand im Korps geführt haben muss. Zuletzt wurde der «Boy» mit einer Plexiglas-Verkleidung geschützt – der Reiz der Skulptur war dahin.
Also liessen die Stadtoberen zum Ärger Rays das Werk entfernen. Zwar setzten sich ein paar Unentwegte mit einer Petition für den Erhalt des Werks ein. Doch die Verantwortlichen zeigten kein Verständnis für das Anliegen; es sei schon immer geplant gewesen, die Figur nach einer Weile fortzubringen – und was behördlich einmal entschieden ist, gilt für immer.
Zum Glück für Basel – wer weiss, ob die Skulptur den Weg dorthin gefunden hätte, auch wenn verschiedene Versionen davon geschaffen wurden? Das Kunstmuseum und das Museum für Gegenwartskunst zeigen nun eine Ausstellung von Charles Ray mit Werken aus den Jahren 1997 bis 2014, darunter den Frosch-Jungen.
Lust auf kühne Projekte
Der 61-jährige Gestalter Ray lebt zurückgezogen in Los Angeles; er gehört zu den Stillen im lär-migen Kunstbetrieb. Der Gestalter kommt aus einer kinderreichen, künstlerisch aktiven Familie, die eine kommerzielle Gestaltungsschule bei Chicago führte. Ray bezeichnet den letztes Jahr verstorbenen englischen Avantgardisten Anthony Caro als sein Vorbild. Auch wenn die Werke der beiden auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: Diese Künstler verbindet die Lust an kühnen Projekten mit ungewöhnlichen Materialien.
Ray spürte seine Leidenschaften schon früh; neben der Kunst das Segeln auf dem Michigan-See. Ray segelte alleine von Kalifornien nach Hawaii – ein Trip der riskanten Art.
Hinter Rays Werken wie «Sleeping Woman« (2012) stecken Geschichten. Das Schicksal dieser Obdachlosen ist besonders anrührend; sie liegt auf einer Bank im Verkehrschaos von Santa Monica bei Los Angeles. Ray spazierte oft in der Gegend und machte auf der Bank die Bekanntschaft mit einem Randständigen, er begann, mit ihm zu sprechen, und gab ihm etwas Kleingeld. Eines Tages war der Typ verschwunden, und Ray fand die schlafende Frau an seiner Stelle – mitten im ganzen Trubel der Stadt. Der Künstler war sogleich fasziniert von dieser Frau. Er machte ein paar Fotos von der Schlafenden, spazierte 40 Minuten heim und merkte, dass das Bildmaterial für eine Arbeit nicht reichte. Ray kehrte zurück – und fand sie noch immer im Tiefschlaf. Danach arbeitete er jahrelang an der Skulptur, die Randständige ist unterdessen verstorben; eine Nachfolgerin besetzt heute die Bank von Santa Monica.
Viel Irritierendes
Alle möglichen Interpretationen eines solchen Werks sind denkbar: Es lässt sich als Sozialkritik verstehen oder als eine Ästhetik des Aussergewöhnlichen. Ray würdigt mit «Sleeping Woman» das Leben einer Zukurzgekommenen, er erweist der Frau seine Reverenz, indem er sich jahrelang mit ihrer Erscheinung auseinandersetzte und das Publikum mit ihrem Schicksal konfrontierte.
Irritierend auf den ersten Blick ist für den Besucher auch die Skulptur «Unpainted Sculpture» (1997). Ray zerlegt einen Unfallwagen minutiös; die Teile goss er in Fiberglas und rekonstruierte damit das Wrack des zerstörten Pontiacs. Man kennt die Idee mit den Schrott-Karossen etwa von Richard Serra, Ray verarbeitet seine Installationen allerdings wesentlich filigraner.
Das war auch bei der Installationsarbeit «Boy with Frog» der Fall – ebenfalls das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Ray bestellte eine digitale 3-D-Version des Modells, das ein Kunststoff-Experte anhand von Fotos anfertigte. Danach modellierten Computerspezialisten die definitive Version in filigraner Arbeit am Bildschirm. Am Schluss wurde die endgültige Version mit Fiberglas und Stahl geschaffen. Die Figur wirkt auf den Betrachter federleicht, sie ist in Wahrheit tonnenschwer.
Die Installationen von Charles Ray erschliessen sich dem Besucher nicht gleich bei der ersten Begegnung. Umso lohnender ist es, sich mit der neuen Schau im Basler Kunstmuseum und im Museum für Gegenwartskunst auseinanderzusetzen.
Charles Ray
So, 15.6.–So, 28.9.
Kunstmuseum und Museum für Gegenwartskunst Basel