kulturtipp: Gidon Kremer, wissen Sie, was mich ein Bekannter fragte, als ich ihn nach Zürich an Ihr Konzert einlud?
Gidon Kremer: Welche Kadenzen spielt er?
Schön wärs. Nein, vielmehr: «Spielt der noch?»
Ich kann das noch toppen. Im Internet stolperte ich über einen Chat, wo eine Musikliebhaberin schrieb: «Kremer kommt im Mai in unsere Stadt!» Da antwortete die andere: «Lebt er noch?»
Könnte es sein, dass Ihnen die Frage «Spielt er noch?» gefällt?
Das klingt makaber – allerdings in einem lustigen Sinn. Die Frage erinnert mich an ein Gespräch mit dem Komponisten Luigi Nono, als er mich fragte: «Sag mal, Gidon, hast du schon mal absichtlich schlecht gespielt? Absichtlich, damit du weisst, wie blöd die Leute sind, die nachher zum Gratulieren ins Künstlerzimmer kommen?»
Sie sind in Lettland aufgewachsen. Alvis Hermanis, der lettische Regisseur, hat dieser Tage aus Protest seine Auftritte in Moskau abgesagt. Können Sie ihn verstehen?
Ich antworte indirekt. Vor einigen Jahren wollte ich die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili dazu verführen, mit mir nach Russland zu fahren und dort Konzerte zu geben. Sie aber lehnte strikt ab: «Nein, nach dem Georgien-Krieg und allem, was da passiert ist, gehe ich nicht nach Russland.» Als liberaler Geist respektierte ich ihre Meinung zwar, argumentierte aber dagegen: «Du spielst doch für andere Leute, das hat nichts mit Politik zu tun!» Heute verstehe ich Khatia und lese mit Entsetzen Interviews von Künstlern, die das Vorgehen von Herrn Putin unterstützen.
Valery Gergiev, Anna Netrebko, Yuri Bashmet …
Ich muss keine Namen nennen. Ich habe jedenfalls still von einem russischen Festival Abstand genommen, das im Dezember stattfindet. Die russische Politik verfolge ich mit Entsetzen. Und wenn ich in einer Schweizer Zeitung die Schlagzeile «Die Schweizer Justiz hilft Putin, Russland blockt Anfragen ab» lese, denke ich: Ich bin im falschen Land angekommen!
Zurück zur Musik: Sie kritisieren junge Künstler, die vom Markt gelenkt werden. Kann man bei einem Konzert in einem Stadion keinen Spass haben?
Das Publikum kann an einer gut aussehenden Geigerin enormen Spass haben – der Spass ist heute Programm. Die Leute geniessen das Glatte und das Reizende. Dieses Schöne ist aber oft nur Oberfläche. Es geht bei einem wahren Künstler ja nicht darum, wie er sich schminkt oder ob er ohne Schuhe spielt. Es geht darum, was er zu sagen hat. Diese Aussage bleibt oft auf der Strecke, weil das Publikum unfähig ist, darauf einzugehen – weder auf das Werk noch auf die Interpretation.
Halb nicke ich zustimmend, halb sage ich: Kremer ist verbittert.
Wenn ich kritisch über die Jugend spreche, will ich kein greiser Musiker sein, der das Nest beschmutzt, in dem er aufgewachsen ist. Es gibt Musiker, die ihren Weg gehen – an denen habe ich grosse Freude. Aber der Markt animiert viele junge Künstler, sich selber zu verkaufen.
Ein junger Künstler will Wettbewerbe gewinnen, will in die Carnegie Hall, will nach Salzburg …
… ich wollte das alles auch.
… und er will nach den 100 000 Stunden Fingerübungen auch ein Haus am Meer. Ist das nicht gesunder Kapitalismus?
Ich denke diese Wochen leider zu oft an den schlimmen Kapitalismus, den die Welt im Umgang mit Russland zurzeit zeigt. Es ist schamlos, dass man über Jahrzehnte seine eigene Politik so aufbaute, dass das Einkommen – das Haus am Meer! – wichtiger ist als ethische Werte und die Freiheit. Ich empfinde diese Haltung als Verrat am Wesen des Menschen und an der Gesellschaft. Und nun sind wir alle ökonomisch von Russland abhängig.
Vor kurzem spielte Khatia Buniathisvili auf Eis, trat im Zürcher Hallenstadion bei der Show «Art on Ice» auf. Schlimm?
Khatia Buniatishvili ist ein reizendes Wesen – und eine sehr begabte Pianistin. Sie ist auf der Suche nach ihrem Weg; ich hoffe, dass das Spiel auf dem Eis nur ein kleiner Umweg ist. Ich habe Respekt vor Leuten, die experimentieren, die etwas ausprobieren und andere Werte sehen als ich. Aber es gibt die Gefahr, auf eine Sprache einzugehen, die Gewalt predigt oder unser Denken einschränkt. Populismus kann sehr anziehend sein. Das ist in deutschsprachigen Ländern genauso bekannt wie in Russland.
Gidon Kremer
Der Geiger wurde 1947 in Riga geboren, seine Eltern waren deutschstämmig. 1975 gab er sein erstes Konzert in (West-)Deutschland. 1980 blieb er nach einer Tournee im Westen. 1981 gründete er das österreichische Kammermusikfest Lockenhaus, 1997 das Streichorchester Kremerata Baltica mit jungen Musikern aus den baltischen Staaten. Kurze Zeit war er Leiter des Menuhin Festival in Gstaad, später von les muséiques in Basel. Kremer schrieb mehrere Bücher und spielte viele CDs ein. Am 31. Mai tritt er beim Festival Zaubersee im KKL Luzern auf.
CDs
Mieczyslaw Weinberg
Mit Kremerata Baltica
(ECM 2014).
Hommage a Piazzolla (Nonesuch/Warner 2011).
The Berlin Recital
Mit Martha Argerich (EMI/Warner 2009).
Konzerte
Zaubersee Festival
Mi, 28.5.–So, 1.6.
www.zaubersee.ch
Fr, 31.5., 19.30 KKL Luzern
Kremerata Baltica, Gidon Kremer
Sa, 1.6., 20.00 Stattkino Luzern
Russisches Kinoschaffen
Einführung: Gidon Kremer
«Die Tierharmoniker»
Mi, 30.7., 19.30 Menuhin Festival, Kirche Saanen
Gidon Kremer & Ensemble
Konzert für Kinder von 5 bis 95 Jahren