Mit der neuen Ära Andreas Homoki hat beim Zürcher Opernhaus das sogenannte «Regietheater» eine Steigerung erfahren, die wir als Besucher nicht mehr unterstützen. Es herrscht zunehmend die Tendenz, Oper nicht mehr für, sondern gegen das Publikum zu machen. Noch schlimmer, es bevormunden zu wollen. Handlungen werden nach Belieben verfälscht, und es dominiert ein Zeitbezug, der die Inhaltsangaben sämtlicher Opernführer ad absurdum führt. Unentschuldbar und verantwortungslos seitens der Intendanz ist das Engagement von Sebastian Baumgarten und hat nichts mehr mit einer «kreativen und mutigen Regiehandschrift» (Homoki) zu tun. Der Eklat war vorhersehbar (Mozarts ziemlich blutige «Don Giovanni»-Inszenierung erntete am Opernhaus Zürich im Mai 2013 Buhrufe), hatte Baumgarten doch bereits 2011 mit seiner Bayreuther «Tannhäuser»-Inszenierung einen Skandal ausgelöst.
Seit schlichte Spielleiter zu «Star-Regisseuren» mutierten und sich über den Schöpfer, also den Komponisten und Librettisten erhoben haben, ist (nicht nur in Zürich) die Welt der Oper nicht mehr in Ordnung. Aus einstmals solidem Handwerk ist eine «Lesart» entstanden, der das ach so denkunfähige Publikum zu huldigen hat. Demut üben, dem Werk dienen, sind Fremdwörter geworden, denn damit sind «im berüchtigten Kritiker-Ranking der Zeitschrift ‹Opernwelt›» (Zitat: Christian Berzins) keine Lorbeeren zu holen. Dass es so weit kommen konnte, daran tragen – so muss man fairerweise sagen – nicht nur die Intendanten, sondern auch jene Rezensenten Schuld, die den Skandal bejubeln, anstatt den Mut zum heilsamen Verriss aufzubringen. Die neueste Tendenz besteht nun darin, zu glauben, den Komponisten «korrigieren» zu müssen, weil der Regisseur, am aktuellen Beispiel «Jenufa», nicht an das von Janacek erdachte Happy End «glaubt». Hinzu kommt, dass das einst zu Recht kritisierte Rampentheater wieder vermehrt stattfindet, weil im Zuge eigener Profiliersucht kaum mehr Zeit für Personenregie bleibt. Sänger werden zu notwendigen Übeln degradiert und in der Presse meist nur noch am Rande erwähnt. Dem Einhalt zu gebieten, wäre die Aufgabe von Andreas Homoki. Als Intendant eines Opernhauses sollte er wissen, dass in der Oper einzig und allein die Sängerinnen und Sänger – Chor, Orchester und Dirigent eingeschlossen – einen Abend zum unvergesslichen Erlebnis machen und das Geld in der Kasse klingen lassen. Hingegen sind, wenn überhaupt, nur wenige bereit, hohe Eintrittspreise für die Ideen eines Regisseurs zu bezahlen, der nach getaner Arbeit und Einkassierung seiner hohen «Star-Gage» die Stätte seiner Zerstörungswut ver- und das Personal seinem Schicksal überlässt. Proteste aus dem Publikum haben ihm nun jene Weihe zuteil werden lassen, die am Ende der Saison mit der Auszeichnung zum «Regisseur des Jahres» gekrönt werden soll. So war es beispielsweise völlig unnötig und nur Geldverschwendung, in der letzten Spielzeit einen neuen «Rigoletto» auf die Bühne zu hieven. Die erst sieben Jahre alte Deflo-Inszenierung, mit wechselnder Besetzung, war bis zur letzten Aufführung äusserst beliebt und ausverkauft. Und wäre, im Gegensatz zur Neuinszenierung, ein würdiger Beitrag zum 200. Geburtstagsjubiläum von Giuseppe Verdi gewesen!
In jungen Jahren habe ich (trotz Beruf, Gesangsstudium etc.) im Schnitt pro Spielzeit ca. 90 Opernaufführungen besucht.Wenn wir nun in der vergangenen Spielzeit gerade mal drei (hervorragende) «Falstaff»-Aufführungen gesehen haben und eine Aufführung von «Roberto Devereux» lieber vergessen möchten, kann etwas nicht stimmen. Oder sind wir als Zielpublikum uninteressant geworden? Auch wenn ich es bezweifle, führt Andreas Homokis «Lebensmotto»: «Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter» vielleicht zum gewünschten Erfolg.
Dennoch, ein Hoffnungsschimmer bleibt: An kleineren Bühnen hat hier und da ein Umdenken stattgefunden. Vielleicht auch, weil dies inzwischen zwingend nötig ist. Selbst unter den Begabtesten der Verrückten hat sich mittlerweile der «Einfallsreichtum» weitgehend erschöpft. Alles gegen den Strich bürsten zu wollen, ist auf Dauer gesehen anstrengend und langweilig geworden. Die immer gleichen «Versatzstücke», wie Koffer, Sonnenbrillen, Heizkörper, Spitalbetten und – als absoluter «Hit» – Hausmüll jeglicher Art, begeistern kein Publikum mehr. Es hat sich eine Beliebigkeit eingeschlichen, in deren belanglosem Rahmen sich jede Oper spielen lässt. Selbst literweise vergossenes Kunstblut verfehlt inzwischen seine Wirkung. Abstumpfung statt Sensibilisierung ist die Folge. Momente unfreiwilliger Komik häufen sich bedenklich und entgehen der Aufmerksamkeit des Publikums nicht mehr so leicht. Zunehmender Hyperaktivismus auf der Bühne lenkt Interpreten und Publikum ab, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Gesang und Musik verkommen zum Soundtrack des stattfindenden Bühnenspektakels. Inzwischen bekennen sogar international anerkannte Sänger und Sängerinnen, sich zunehmend bei der Ausübung ihrer Kunst behindert zu fühlen, und fordern die Opernbesucher auf, sich gegen überbordende Regie-Ideen zu wehren.
Oper für alle, wie Homoki sie ankündigte, findet (noch) nicht statt und war eher im verpönten «Gemischtwarenladen» Pereiras anzutreffen. Denn «Oper für alle» hiesse auch, für eingefleischte Melomanen und all jene zu spielen, die der Tristesse des Alltags entfliehen, ihre Sorgen und Nöte für einige Stunden vergessen oder hin und wieder in eine andere Welt eintauchen möchten. Diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, sollte Aufgabe und vornehmstes Ziel eines jeden Intendanten sein. Das setzt jedoch die Erkenntnis voraus, dass die oftmals totgesagte Kunstgattung Oper nicht realistisch, meist auch unlogisch, Nahrung für die Seele, «ein Zauberschiff zu den Ufern der Phantasie» (Rolf Liebermann), aber mit Sicherheit kein Schauspiel für Musik ist. Gerade d a r u m lieben wir sie.
Ellen Pringsheim
Die Deutsche Ellen Pringsheim absolvierte ein Gesangsstudium und besuchte eine Opernschule. Die heute im Baselbiet lebende Opernkennerin vertritt eine pointierte Meinung über die Entwicklung der Sparte.