Beim ersten Anblick fühlt man sich wie ein Pirat, der eine Schatztruhe mit Gold entdeckt: Die mehr als 500 Jahre alte Bilderchronik des Luzerner Chronisten Diebold Schilling umfasst 346 Pergamentseiten. Das Werk enthält eindrückliche Bilder von Hexenverbrennungen, Schlachten und Kometenerscheinungen sowie Texte über diese historischen Ereignisse. Als Nachkomme einer Buchmalerfamilie brachte Schilling seine frühneuhochdeutschen Texte eigenhändig zu Papier und malte einen Teil der Bilder selbst. Peter Kamber, Leiter der Sondersammlung in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern (ZHB), sagt, was dieses Werk einzigartig macht: «Abgebildete Privaträume wie Schillings Innenansicht eines damaligen Bauernhauszimmers sind in Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts selten.»
Die Darstellungen sind in der neuen Ausstellung «Prag – Luzern – Engelberg. Illustrierte Handschriften des 15. Jahrhunderts aus Mitteleuropa» zu sehen. Neben Schilling verdient beispielsweise die Handschrift «La Vengeance de Notre Seigneur» («Die Rache unseres Herren») Aufmerksamkeit mit 28 Einzelblättern. Die unvollständige Kollektion diente als Wandschmuck in einem der Chorherrenhäuser des Stifts St. Michael im luzernischen Beromünster und gelangte über Umwege in die Bibliothek.
Doch im Mittelpunkt der Ausstellung steht Diebold Schilling (1460–1515). Der Mann war ein kantiger Charakter. Er amtete als Notar und wirkte ab 1481 auch als Priester. Dennoch liess er keinen Streit aus und eckte immer wieder an bei der Obrigkeit. Der Luzerner Rat liess ihn 1487 für zwei Jahre einkerkern, was bei Schilling indes zu keinerlei Gesinnungswandel führte. Im Gegenteil: Kaum frei, blieb nach einer nächtlichen Schlägerei ein Toter liegen, Schilling kam zwar mit einer Busse davon, musste aber künftig jährlich eine Totenmesse für das Seelenheil des Opfers lesen. Immerhin fand er offenbar genügend Zeit, sich seiner Bilderchronik zu widmen, die er zwei Jahre vor seinem Tod fertigstellte.
Künstlerische Unikate
Die nun in Luzern ausgestellten Kunsthandwerke sind gezeichnet von Wurmlöchern, Tinten- und Fettflecken, vergilbten Seiten und verwischter Farbe. «Aber die Bücher, die heutzutage gedruckt werden, könnten nie so viele Jahrhunderte überdauern. Die Qualität von Farbe, Papier und Tinte aus dem 15. und 16. Jahrhundert hält 100 Mal mehr aus als das heutige Material», sagt Konservator Kamber.
Die Chroniken sind handwerkliche Unikate, an denen teils mehrere Jahre gearbeitet wurde. «Klar, mussten die Gestalter mit ihren Handschriften damals ihren Lebensunterhalt verdienen. Es ging aber nicht in erster Linie um den Profit – die Bedeutung ihres Kunstwerks, das Gotteslob, war wichtiger. Deshalb nahmen sie sich die Zeit, die sie für ein sauberes Ergebnis brauchten.» Falls ihnen ein Schreib- oder Zeichenfehler unterlief, konnten sie auf dem teuren Pergament eine Schicht wegkratzen und einen neuen Versuch wagen.
Über die Hälfte der ausgestellten Handschriften sind religiöse Bücher: «Die Leute waren auf der Suche nach ihrem Seelenheil. Deshalb gaben Adlige solche Handschriften in Auftrag und stifteten sie einem Kloster.» Nebst Gesangsbüchern für Mönche und Gebetsbüchern zum privaten Gebrauch enthält die Sammlung der ZHB weltliche Bücher, die das damalige Weltgeschehen abbilden, sowie Pilgerberichte, Rechts- und Geschichtsbücher.
Heute sind die Handschriften von unschätzbarem Wert. Doch schon damals konnten sich laut Kamber nur Wohlhabende solche leisten: «Diese Werke waren Luxusgüter. Manche entsprachen etwa dem Wert eines damaligen Hauses oder einer wertvollen Kuh. Sie waren ein Macht- und Statussymbol.»
Im Früh- und Hochmittelalter seien vor allem Mönche Illustratoren solcher Handschriften gewesen. Bei den Ausstellungsexemplaren handelt es sich jedoch um neuere Werke, hinter denen Fachkräfte stecken: professionelle Berufsleute, bezahlte Buchmaler und Schreiber. In der Zeit von Diebold Schillings Bilderchronik herrschte Arbeitsteilung: Jemand kümmerte sich um die Initialen, einer um die Randillustrationen, die Bordüren, und ein anderer um die grossen Bilder. So konnten mehrere Exemplare gleichzeitig gefertigt werden. Die langwierige Herstellung der Handschriften musste laut Kamber vorfinanziert werden – sonst hätten die Handwerker ihren Lohn jeweils erst nach langer Zeit erhalten.
Spurensuche
«Die Bilder, Farben und die kunstvolle Schrift faszinieren mich gleichermassen wie einen Laien. Deshalb stehe ich immer wieder staunend davor», sagt Kamber. Doch das Spannendste seien die Geschichten, die sich hinter einer solchen Handschrift verbergen: «Ich liebe es herauszufinden, wie, wo und weshalb sie entstanden und
von einem Ort zum anderen gewandert sind.» Dies gelinge zwar nicht immer, aber falls doch, dann nur durch zeitaufwendige Nachforschungen. Oder es führen absonderliche Indizien weiter: Manchmal verweisen neben den schriftlichen und bildlichen Hinweisen eine tote Fliege oder eine gepresste Pflanze zwischen den Seiten auf eine Spur.
Prag – Luzern – Engelberg. Illustrierte Handschriften des 15. Jahrhunderts aus Mitteleuropa
Di, 23.2.–Sa, 2.4. Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern
Standort: Sempacherstrasse 10 Luzern