Die Musikhalle lockte mitten in Berlin an der Friedrichstrasse. «B. Moore’s Academy of Music» hiess das Lokal und versprach auf einem zeitgenössischen Plakat «Auftritte von Künstlerinnen aller Nationen». Eine Auswahl der singenden und tanzenden Ladies hat der norwegische Künstler Edvard Munch 1895 auf seiner Lithografie «Tingeltangel» festgehalten. Der kolorierte Druck mit der fülligen Dame im Vordergrund verspricht dem Betrachter allerdings weniger künstlerische Bereicherung und mehr sinnliches Vergnügen. Es erinnert einen heute an die Arbeiten von Toulouse-Lautrec in Paris.
Munch (1863–1944) hat diese Lithografie 1895 gestaltet. Sie ist alles andere als dokumentarisch: Man spürt vielmehr, wie sehr die «Artistinnen aller Nationen» den Künstler faszinierten. Allerdings scheinen sie ihm auf der Bühne entrückt zu sein. Oder ist er der Herr persönlich, dem sich die füllige Dame lasziv zuwendet? Ein ganz anderes Frauenbild aus der gleichen Zeit vermittelt Edvard Munch mit der Lithografie «Madonna»: Allein dieser Titel war eine Provokation im wilhelminischen Zeitalter. Hier ist die leichte Dame eine Heilige, ergänzt mit einem kleinen Totenkopf links unten. Sie illustriert die Kritik des jungen Mannes an der damals scheinheiligen Wohlanständigkeit des Bürgertums. Aber sie zeigt auch die Widersprüchlichkeit von Munchs Frauenbild – zwischen Begehren, Bewunderung und Furcht.
Diese Lithografien sind in der Ausstellung «Edvard Munch. 150 grafische Meisterwerke» im Kunsthaus Zürich zu sehen. Die Schau will die Grunderfahrungen menschlicher Existenz» dokumentieren, wie sie Munch prägten – von der Liebe über die Einsamkeit bis zur Trauer.
Wahrnehmung verstellt
Dieser Künstler ist heute Teil der Popkultur, vor allem wegen des Geschreis um den Schrei. Jedes Kind kennt diese Darstellung eines verzweifelten Menschen bis zum Überdruss, viele können sie nicht mehr sehen – künstlerischer Wert hin oder her. Und alle interpretieren in dieses Bild hinein, was in ihre persönliche Gemütslage passt, vom Liebeskummer bis zum globalen Weltschmerz. Anscheinend entwickelte diese Bilderserie auch ein unwiderstehliches Verlangen halbseidener Kunstkrimineller. Man geht wohl recht in der Annahme, dass «Der Schrei» weiterhin aus Ausstellungsräumen verschwindet, wann immer sich eine Möglichkeit zum Diebstahl bietet.
Mit der Popularisierung ist die heutige Wahrnehmung von Munch verstellt, wie der deutsche Publizist Reiner Luyken treffend in der «Zeit» zu den zahlreichen Feierlichkeiten über den 150. Geburtstag des Künstlers schrieb: «Munch wird vermarktet, verworkshopt, vertouristisiert, versouveniert, verfacebookt.»
Edvard Munch kommt als Sohn gebildeter, sehr religiöser Eltern mitten im 19. Jahrhundert in der norwegischen Provinz
zur Welt. In jener Zeit galten zwar die traditionellen Werte einer hierarchischen Gesellschaft, aber sie zerbröselten zusehends. Munchs Mutter stirbt an Tuberkulose, als Edvard ein kleines Kind ist, kurze Zeit später folgt ihr seine ältere Schwester – diese Verluste prägten ihn ein Leben lang. Und sein Vater leidet an «Nervosität», ein Befund, der auf eine schwerwiegende psychische Störung hindeutet.
Bohème von Oslo
Wie viele seiner Generation beginnt Munch zuerst ein «bürgerliches» Studium nach dem Willen des Vaters. Doch der junge Mann wendet sich schon als 18-Jähriger der Malerei zu und schliesst sich nach ein paar Jahren der Bohème von Oslo an, angezogen von Forderungen nach sozialer Gleichheit und sexueller Freiheit.
Künstlerisch verschrieb er sich der Reihe nach den dominierenden Strömungen seiner Zeit – zuerst dem Realismus, dem Impressionismus, dem Expressionismus und schliesslich dem Symbolismus. Er lebte in den künstlerischen Kreisen von Berlin und Paris, provozierte mit seiner Malerei immer wieder bürgerliche Proteste. Um die Jahrhundertwende verliebte er sich in Tulla Larsen, eine Dame der guten Gesellschaft. Aus einem damaligen Briefentwurf geht hervor, dass Munch für eine Heirat eine absonderliche Bedingung stellte: Das Paar muss kinderlos bleiben und wie Bruder und Schwester zusammenleben, erst dann könne er sie lieben. Sie akzeptierte diese Vorgaben zwar, aber zu einer Heirat kam es trotzdem nicht – Munch flüchtete vor ihr.
In jener Zeit war er künstlerisch anerkannt und konnte von seinen Aufträgen gut leben. Im ersten Jahrzehnt fand er schliesslich selbst in Norwegen den Zuspruch der Kritik und kehrte nach Jahren in Deutschland zurück. Doch reibungslos verlief sein Leben nicht: Munch war manisch-depressiv; er musste sich in einer Kopenhagener Klinik behandeln lassen. Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er in Norwegen, lange Zeit in der Einsamkeit auf einer Insel bei Oslo. Seiner Vaterstadt vermachte er seine Werke, die heute im lokalen Museum zugänglich sind.
Die Zürcher Ausstellung wirft einen Blick auf die künstleri-sche Arbeitsweise des Grafikers Munch. Er verfertigte eine Lithografie nicht vollständig auf dem Druckstock, um anschliessend die Abzüge zu produzieren. Vielmehr veränderte er die Platten laufend und druckte Variationen von Blättern in kleinen Auflagen. Auch experimentierte Munch mit den Papiersorten oder dem Holz, um unterschiedliche Effekte zu erzielen.
«Erinnerungsarbeit»
Die meisten seiner Drucke und Gemälde zeugen nicht von Lebensfreude. Kritiker ordnen seine Werke deshalb gerne als «Erinnerungsarbeit» ein, um seine traumatischen Verluste in der Kindheit sowie seine manisch-depressiven Schübe zu bewältigen. Tatsächlich unterliegt der Betrachter bei Munch gerne der Versuchung, seine Werke psychologisch zu interpretieren. Das ist legitim, sollte aber den Blick auf seine künstlerische Leistung nicht zu sehr trüben.
Edvard Munch.
150 grafische Meisterwerke
Fr, 4.10.–So, 12.1.
Kunsthaus Zürich