Krieg und Kunst – geht das zusammen? Die englische Schriftstellerin Pat Barker schildert den Schrecken des Kriegs aus der Sicht von Absolventen der Londoner Kunstakademie Slade. Im Mittelpunkt steht die junge Malerin Elinor Brooke. Sie hatte vor dem Ersten Weltkrieg eine Liebschaft mit ihrem Bruder Toby, der unter ungeklärten Umständen an der Front in Frankreich stirbt. Die beiden wuchsen in einem herrschaftlichen Milieu auf und litten unter der elterlichen Verlogenheit.
Verbürgte Figuren
Sie will in ihrem Schmerz mehr über sein Schicksal erfahren und besucht ein Rehabilitationszentrum für Kriegsversehrte: «Männer ohne Augen wurden von Männern ohne Münder geführt; sogar ein Mann ohne Kiefer war darunter, dessen Gesicht abrupt zum Hals abfiel.» An diesem Zentrum arbeitet Henry Tonks, ein englischer Porträtist und Mediziner. Er hilft mit, die Fratzen der Kriegsversehrten zu möglichst menschlichen Gesichtern umzuformen.
Mit Tonks führt die Autorin Pat Barker eine historisch verbürgte Figur ein. Und für die Protagonistin Elinor diente die exzentrische Malerin Dora Carrington als Vorbild, eine der ganz schrägen Künstlerinnen in der Bloomsbury Group, jener Avantgardisten, die das britische Geistesleben Anfang des letzten Jahrhunderts prägten. Darauf deutet auch der Titel hin, der an den Roman «Jacob’s Room» von Virginia Woolf erinnert, den sie nach dem Kriegstod ihres geliebten Bruders geschrieben hatte.
Die Künstlerin Elinor sucht in der Rehaklinik den verstümmelten Maler Kit Neville, der das Schicksal ihres toten Bruders kennen muss, weil er in der gleichen Einheit diente. Neville weigert sich aber, Elinor dessen Geschichte zu erzählen – um sie vor der Wahrheit zu schützen.
Der Sinn der Malerei
Neville buhlt um die Gunst von Elinor, ebenso wie Paul Tarrant, beide von der Autorin nach Künstlern jener Zeit geformt. Doch die fiktive Elinor ist zu einer beständigen Beziehung unfähig, ebenso wie das die Künstlerin Dora Carrington war. Diese verliebte sich nach dem Krieg in den schwulen Schriftsteller Lytton Strachey und nahm sich nach dessen Krebstod 1932 das Leben. So weit reicht der Roman indes nicht, er endet damit, dass Elinor die Wahrheit über das Schicksal ihres Bruders doch noch erfährt.
Im Roman «Tobys Zimmer» taucht immer wieder die Frage auf, welche Verantwortung der Kunst im Krieg zukommt. Für Elinor ist klar: «Ich male nichts, was damit zu tun hat. Weil der Krieg auch das verschlingt. Und ich finde nicht, dass er Gegenstand sein sollte, ich finde die Malerei sollte Huldigung sein. Lobpreisung», sagt sie dem Arzt und Künstler Tonks. Dieser sieht die Sache pragmatischer: Jeder Krüppel, der in die Klinik kommt, ist es wert, gezeichnet zu werden – vor und nach der Operation. Elinors Haltung lässt sich mit ihrer feministischen Einstellung zum Ersten Weltkrieg erklären. Genauso wie ihr Vorbild Virginia Woolf, geht sie die Schlachterei nichts an. Sollen die Männer das unter sich erledigen.
Barker hat einen packenden Roman geschrieben. Sie erzählt die anrührende Geschichte einer ungewöhnlichen Geschwister-Beziehung. Und sie vermittelt ein spanungsvolles zeitgeschichtliches Bild.
Pat Barker
«Tobys Zimmer»
398 Seiten
(Dörlemann 2014).