kulturtipp: Maestro, mit dem Scala-Orchester sind Sie seit Jahren verbunden. Das Lucerne Festival Orchestra (LFO) leiten Sie nun fünf Jahre, obwohl keiner weiss, wie es kommen wird, da Sie das Orchester nicht kennen.
Riccardo Chailly: Mein Leben war eine Kette von Schicksalsmomenten. Weder in Berlin noch in Amsterdam oder Leipzig gab es vorgegebene Wege. Ich hoffe, dass die engen persönlichen und musikalischen Beziehungen, die ich zu meinen Orchestern pflege, auch zu den Musikern in Luzern wachsen.
Es ist eigenartig, dass Sie das Luzerner Orchester bisher nie dirigiert haben. Weder das Orchester noch Sie wissen, was auf einen zukommt.
Das ist gerade das Interessante an dieser Sache! Ich dirigiere seit mehr als 40 Jahren, habe wahrlich die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht, aber mache jetzt mal etwas ganz anderes: Da sehe ich eine grosse Chance. Mit der 8. Sinfonie von Mahler dirigiere ich bei meinem Antritt quasi die Schicksalssinfonie meines Lebens. Viele Kollegen dirigieren diese Sinfonie nie. Ich hingegen habe sie an den wichtigen Orten immer dirigiert, in Amsterdam, in Leipzig – und auch in Mailand. Es ist die ideale Sinfonie, um mich einzuführen, ist das doch die einzige Mahler-Sinfonie, die Claudio Abbado mit dem LFO nie aufgeführt hat. Wir werden uns mit der Achten kennenlernen.
Bei anderen berühmten Dirigenten weiss ich oft, was passieren wird – auch Grossartiges. Aber bei Ihnen sind eine Entschlossenheit und eine Spontaneität da, die sehr oft Neues schaffen. Suchen Sie das Risiko, indem Sie Chefdirigent des Luzerner Orchesters werden?
Nein, ich sehe es nicht als Risiko, sondern als ein Privileg. Es ist eines der besten Orchester der Welt mit ausgezeichneten Musikern. Ich war ein sehr guter Freund von Claudio Abbado, dem Gründer dieses Orchesters, stand ihm bis zum Schluss nahe. Ich habe genau verfolgt, was er in Luzern schuf, und kenne das Orchester, seinen Stil und seinen Klang.
Trotz der persönlichen Nähe: Sie sind ein ganz anderer Dirigent!
Keine Frage, aber es gibt ästhetische Gemeinsamkeiten, schliesslich assistierte ich Claudio schon in den frühen 1970er-Jahren. Und doch sind wir grundverschieden. Ich bewundere seinen Mahler – aber mein Mahler ist anders.
Ist es entscheidend für die Arbeit mit dem LFO, dass Sie Abbado einst assistierten, sein Freund waren und die Arbeit des Orchesters verfolgten?
Das ist sehr wichtig: für mich und mein Orchester.
Sie bringen knapp zehn Mailänder Musiker aus der Scala nach Luzern. Verfolgen Sie damit Abbados Idee des «Orchesters der Freunde» weiter?
Ich lasse diese Idee die seine sein. Man kann sich das wünschen, aber es ist zu früh, davon zu sprechen. Es geht mir mehr um grosse Musiker als um Freunde. Ein grosses musikalisches Vertrauen ist wichtig.
Wird Luzern eine Lebensstelle, oder ist das ein gewöhnlicher Fünfjahresvertrag?
Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Es ist jetzt wichtig, diesen Durchgang zu machen. Es ist auch nötig, dass das Orchester nach der grossen Zeit mit Abbado neue Komponisten kennenlernt. Da suche ich nun mit Intendant Michael Haefliger andere Wege.
Ist es eigentlich klar, dass ein Top-Orchester technisch gut ist?
Es ist jedenfalls fundamental wichtig! Vom Lucerne Festival Orchestra erwarte ich denn auch, dass es ein Orchester ist, das technisch keine Grenzen kennt. Aber ich bin nicht naiv: Ich kann das bereits beurteilen, habe das Orchester ja oft gehört.
Ist es denn die Technik, die den Charakter eines Orchesters ausmacht?
Es hat mit der individuellen Qualität der Musiker zu tun, aber es geht darum, diese eigenen Qualitäten in die Ökonomie des Kollektivs zu überführen. In einem Solo muss die Individualität hervortreten, danach muss einer jedoch fähig sein, sich ins Ganze einzufügen. Das ergibt die grosse Eigenheit eines Klangs, wie ihn alle grossen Orchester der Welt haben.
Sie dirigieren seit 40 Jahren in den grössten Theatern der Welt, heute im schönsten überhaupt: Geraten Sie nie ins Klagen, dass früher alles besser war? Dass etwa viel mehr Zeit war, um zu proben?
Das stimmt. Aber sehen Sie: Früher arbeitete ich instinktiver, heute kann ich mich auf meine Erfahrung verlassen. Es gilt vorauszuschauen, zu wissen, wo die vermeidbaren Probleme liegen. Ich habe fast immer recht. Leider. Ich kann im Voraus an den Herausforderungen arbeiten, gewinne so Zeit – Zeit, die gar nicht mehr da wäre. Ich beobachtete, was bei einem Pierre Boulez in einer Probe geschah, bewunderte sein Verhältnis zwischen dem Erreichten und den wenigen Worten, die er dafür sprechen musste.
Gibt es eine Regel, wie viel ein Dirigent reden muss?
Der Dirigent muss sprechen und Dinge erklären, gewiss, aber das Orchester ist da, um zu spielen. Das versteht man mit dem Alter viel besser. Kurz: In der Probe wird ein Viertel gesprochen, drei Viertel gespielt.
Riccardo Chailly
Riccardo Chailly wurde 1953 in Mailand geboren. 1974 holte ihn Claudio Abbado als seinen Assistenten und zweiten Dirigenten an die Scala. Von 1982 bis 1989 war er Chefdirigent des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, danach beim Concertgebouw-Orchester in Amsterdam und bis 2015 beim Gewandhausorchester Leipzig. Seit Anfang letzten Jahres ist er Musikdirektor der Mailänder Scala und nun Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra. Chailly ist verheiratet mit der Innendesignerin Gabriella Terragni.
Lucerne Festival
Das Lucerne Festival beginnt am Fr, 12.8., mit der 8. Sinfonie von Gustav Mahler, dirigiert von Riccardo Chailly (Wiederholung: Sa, 13.8.). Unter dem Motto «PrimaDonna» stellt Intendant Michael Haefliger die Frauen – vor allem Dirigentinnen und Komponistinnen – ins Zentrum. Sie alle mitsamt den Solistinnen sind der «Artiste Etoile 2016». Viele von ihnen können am Erlebnistag am So, 21.8., zu familienfreundlichen Preisen gehört werden. Die 1968 in Graz geborene Olga Neuwirth ist Composer in Residence.
DVD
Mahler: Symphonie Nr. 8
Gewandhausorchester Leipzig, Chailly
92 Minuten
(Accentus 2011).