A ls ich nach zahllosen ärztlichen Untersuchungen erfahren hatte, dass mein zweites Kind mit einer genetischen Veränderung geboren worden war, von der keiner wusste, welchen Namen sie hatte, noch welche Auswirkungen sie auf unser Leben haben würde, stand ich am Fenster und betrachtete die Passanten.
Es war ein trüber Februartag am Ende des 20. Jahrhunderts, die Menschen gingen mit gleichgültigen Gesichtern umher, sie waren alle dunkel gekleidet, und ich dachte, warum ich? Warum nicht einer von denen da unten? Warum ich?
In den darauffolgenden 16 Jahren, während wir miteinander lebten, die Kleine, das Syndrom und ich, stellte sich die Frage so nicht mehr, sondern sie weitete sich aus auf die Suche nach der Bedeutung behinderter Menschen für die Gesellschaft. Warum wir? Warum gibt es Behinderungen? Warum ist die Natur unvollkommen? Und was heisst vollkommen, wer definiert Perfektion?
Ausgehend von einer Verstörung der sprachlichen Begriffe – Menschen waren an Rollstühle gefesselt, Kinder litten unter ihrem Syndrom, hatten einen Defekt oder eine Störung, waren nicht gesund – begann ich mich zu fragen, wie geistige Behinderung erzählt werden kann.
Zunächst: der Ausnahmezustand. Er wurde nicht durch das Kind verursacht, sondern durch die Zuschreibungen der anderen. Die Blicke der Passanten, wenn ich das durch Stürze und blaue Flecken verunstaltete Mädchen im Buggy durch die Strassen schob, die tastenden Fragen in der Notfallstation des Kinderspitals, wenn wieder ein Kopfschwartenriss oder offener Bruch versorgt werden musste, bis hin zu Bemerkungen wie die des Gastwirts in meinem Roman «Atmen, bis die Flut kommt» angesichts der geistig behinderten Lio: «So etwas müsste es doch nicht mehr geben heutzutage.» Nicht die Chromosomenveränderung war die Ursache der Behinderung. Transitive und intransitive Wortbedeutung: behindert sein und behindert werden.
«Bird wartete, bis die sich eifrig unterhaltenden Frauen mit dem Baby herangekommen waren, und blickte dann seinem vom Arm der Mutter behüteten Sohn ins Gesicht. Er wollte versuchen, ob er in den Pupillen des Babys sein eigenes Gesicht gespiegelt fände. Der Spiegel dieser Augen war von einem ausserordentlich klaren und tiefen Dunkelgrau, und wirklich tauchte Bird aus ihm herauf, so winzig freilich, dass er sein neues, verändertes Gesicht nicht zu erkennen vermochte.» Am Ende seines Romans «Eine persönliche Erfahrung», in dem ein junger Mann sich nach einer existenziellen Erfahrung dazu entschliesst, sein mit einer Gehirnhernie geborenes Kind anzunehmen, formuliert der Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, worin Chance und Sinn jeder Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung liegen: sich selbst zu spiegeln in den Augen des behinderten Menschen. Sich und das eigene im Auge des behinderten Menschen verkleinerte Ich zu sehen. Und zu verstehen, dass das Geheimnis nicht im geschärften Blick auf das Andersartige enthüllt wird, sondern in den Mühlen des täglichen Zusammenlebens. «Sobald wir zu Hause sind, werde ich sofort in den Spiegel schauen, dachte Bird. Gleich danach dann wollte er, nahm er sich vor, in dem Wörterbuch (…) als erstes die Vokabel für das Wort ‹Geduld› nachschlagen.»
Wer sich wie Bird einlässt, erfährt, dass der Blick in die Augen des behinderten Kindes einen selbst bis zur Unkenntlichkeit verändert: Unsicherheit, Angst, Fluchtreaktion – Umkehr des Selbstverhältnisses. Die Psychologin Marlis Pörtner, die mit geistig Behinderten arbeitet und sich einem personenzentrierten Therapieansatz verschrieben hat, schildert den Fall einer Frau, die sich vermeintlich sprachlich nicht äussern konnte und, auf dem Boden liegend, wimmernde Laute ausstiess, die keiner zu deuten wusste. Mit ‹Vernunft› und ‹Sprache› war dieser Frau helfend nicht beizukommen. Häufig kam es zu heftigen Ausbrüchen. Erst als die Betreuerin sich zu ihr auf den Boden legte und ähnliche Laute auszustossen begann, konnten die beiden in Kontakt treten und eine Verständigung darüber beginnen, was die Frau brauchte.
Wie aber kommt Sprachlosigkeit in einen literarischen Text? Lio, das Mädchen mit geistiger Behinderung, in meinem Roman «Atmen, bis die Flut kommt» kann nicht erzählt werden. Sie entzog sich während des Schreibens durch ihre Andersartigkeit, vor der jede Einfühlung kapituliert. Es gibt fachsprachliche Beschreibungsmöglichkeiten wie «distinktes Dysmorphiesyndrom unbekannter Ätiologie» und so fort, und es gibt die Worte der Eltern, die das Kind beschreiben wie jedes andere: Es ist emsig, es trotzt, es macht uns Freude. Das beschreibt nicht das Besondere. Den Ausnahmezustand. Es brauchte zuerst den Augenblick, den Einblick und die Einsicht, dass das behinderte Mädchen mich in meiner Kleinheit spiegelt und die Verhältnisse sich umkehren. Das zu sehen, ist der Auftrag, der an uns ergeht: Vater Konrad «erzieht» Lio nicht. Er lebt einfach mit ihr und wundert sich ab und zu. Spät erst, an der Steilküste, als er sich vor der herannahenden Flut retten muss, versteht er, dass sie es war, die ihn erzogen hat, die ihm durch ihre Anwesenheit dazu verholfen hat, der zu werden, der er ist. Nicht zuletzt als Zeichner. Für Lio konnte ich keine Figurenbeschreibung für die Schreibarbeit am Roman verfassen, und ihr die Erzählperspektive aufzubürden, wäre ein Gewaltakt gewesen. Sie war einfach auf eine kreatürliche Weise da, sie füllte und beschattete den Text wie eine Wolke, und indem sie mit ihrer Andersartigkeit auch das Leben ihres Comic zeichnenden Vaters Konrad ausfüllte, forderte sie ihn heraus, mit ihr zu leben ohne Fallnetz und doppelten Boden, ohne Gewissheit und im Grunde ohne Zukunft. Die beiden existieren nur im Augenblick. Sie lebt es ihm vor und verlangt es ihm ab: ohne Bedingung zu lieben. Das ist die Aufforderung an uns, die in der Existenz jedes Menschen mit Behinderung liegt. Zu akzeptieren, dass er ist, wie er ist, ihm zu begegnen mit einer Liebe, die an keine Leistungserwartung geknüpft ist, und: schwieriger noch. Sich auf dieselbe Weise wiederlieben zu lassen.
Beate Rothmaier
Beate Rothmaier studierte Germanistik und Romanistik in München und Tübingen. 1990 erlangte sie den Magister mit einer Arbeit über Gottfried von Strassburgs «Tristan». Rothmaier arbeitete für verschiedene Theater und Verlage und in einer Werbeagentur als Texterin. Sie lebt als freie Schriftstellerin mit ihren beiden Kindern in Zürich.
Im Text erwähnte Bücher:
Kenzaburo Oe
«Eine persönliche Erfahrung»
240 Seiten (Suhrkamp 1991)
Marlis Pörtner
«Brücken bauen. Menschen
mit geistiger Behinderung verstehen und begleiten»
240 Seiten (Klett Cotta 2007)
Beate Rothmaier
«Atmen, bis die Flut kommt»
400 Seiten (DVA 2013)