Der Künstler gibt dem Betrachter einen Einblick in seine Lebenswelt um die vorletzte Jahrhundertwende: Der Grossbürger Max Liebermann (1847–1935) residierte mit seiner Familie in einem Palais am Pariser Platz in Berlin; auf dem Bild sind im Vordergrund rechts auf dem Sofa seine Frau Martha und seine damals 17-jährige Tochter Käthe zu sehen.
An der Wand hängen zwei Bilder des französischen Impressionisten Edouard Manet, den Liebermann bewunderte. Ganz im Hintergrund, auf den ersten Blick fast nicht erkennbar, hat sich der Künstler selbst gemalt – bescheiden als ein Kleiner in seiner Welt. Und der Tierfreund erkennt auf dem Stuhl den Hund Menne, den der Schweizer Kunsthistoriker Hugo von Tschudi der Familie schenkte. Der kleine Kläffer wählte ein exklusives Lager; auf diesem Sessel posierten immerhin Grössen wie der wilhelminische Politiker Otto von Bismarck.
«Wie Richter heute»
All das lässt uns aus heutiger Sicht die gesellschaftliche Stellung Liebermanns verstehen. Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten dominierte er zeitweilig die deutsche Kunstszene. «Liebermanns Bilder waren damals so teuer wie Werke von Gerhard Richter heute», sagt Marc Fehlmann, Direktor des Winterthurer Museum Oskar Reinhart. Das Haus zeigt nun eine Retrospektive Liebermanns mit 80 Werken aus Schweizer Beständen, denn Sammler wie der Winterthurer Unternehmer Oskar Reinhart oder der Zürcher Seidenhändler Gustav Henneberg entdeckten den Deutschen schon früh.
Die Schau beginnt mit einem der ersten Werke Liebermanns, mit einer Skizze, die der 18-Jährige gezeichnet hatte. Und sie endet mit späten Werken, wie «Der Nutzgarten in Wannsee nach Westen» (1922), als sich der Künstler mehr und mehr auf seine Anwesen am Berliner Wannsee zurückzog. Seine letzten zwei Lebensjahre überschattete die Machtergreifung der Nationalsozialisten: Auch wenn der betagte Liebermann der direkten Verfolgung durch seinen Tod entkam.
Seine Frau Käthe musste sich 1943 das Leben nehmen, um der Deportation zu entgehen. Dieses jüdische Familienschicksal erklärt laut Fehlmann die mangelnde Anerkennung Liebermanns nach dem Krieg in Deutschland: «Sein Werk löste eine gewisse Scham aus; es erinnerte mehr an das düsterste Kapitel der jüngsten Menschheitsgeschichte als etwa Marc Chagall.»
Max Liebermann wurde in eine vermögende Berliner Kaufmannsfamilie geboren. Er musste sich allerdings gegen den väterlichen Willen durchsetzen, um eine Laufbahn als Künstler einzuschlagen. Er wandte sich in den frühen Jahren dem deutschen Naturalismus zu – mit wenig Erfolg. Mit 24 Jahren reiste Liebermann erstmals nach Holland, wo er Zeit seines Lebens immer wieder Inspiration fand. Seine Strandbilder von der Nordsee prägten das Liebermann-Bild späterer Generationen. Ein wunderschönes Beispiel ist in Winterthur zu sehen: «Badende» (1909), eine intensive, lichtstarke Komposition von Sandstrand und Wasser.
Ein Skandal machte Liebermann der breiteren Öffentlichkeit erstmals bekannt: 1879 malte er ein Historienbild mit Jesus als Kind in einem Tempel. Kritiker fanden die Darstellung des Knaben entwürdigend – und unterstellten dem jüdischen Künstler antichristliche Motive. Nach und nach verschaffte er sich jedoch Anerkennung mit impressionistischen Werken wie dem Amsterdamer «Altmännerhaus» (1880) und sieben Jahre später mit der «Ziegenhirtin»: Ein sozialkritisches Werk, das ein verarmtes Mädchen in den Dünen mit einer verloren wirkenden Geiss zeigt.
Politischer Wandel
Liebermanns Leben liest sich sehr menschlich: Er war ein Mann, der seinen Weg beharrlich suchte und sich immer wieder irrte. In ein konservatives Milieu hineingeboren, wurde er zum Liberalen und täuschte sich wie viele seiner Generation im angeblich liberalen 99-Tage-Kaiser, Friedrich III. Er kämpfte gegen überholte Strukturen im alten Kaiserreich und wandelte sich nach der Jahrhundertwende nach und nach selbst zum Konservativen. Liebermann verkannte den Stellenwert des Expressionismus, hatte aber die Grösse, sich mit ihm zu versöhnen. Und er glaubte an die Tugenden des politischen Nationalismus, erkannte aber schnell die Gefahren des Nationalsozialismus. Max Liebermann war nicht der grösste deutsche Künstler der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, aber einer, der uns heute noch nahe geht.
Max Liebermann und die Schweiz
Fr, 4.7.–So, 19.10.
Museum Oskar Reinhart, Winterthur