Der Roman beginnt mit einem Gewaltakt und endet mit einem Todesfall – zwei von vielen Toten in dieser Geschichte. So richtet sich etwa im fernen Japan ein Offizier selbst im rituellen Akt «Seppuku». Die gefilmte Szene wird als Empfehlung für das japanische Filmschaffen nach Deutschland geschickt. Der Ministerialbeamte Masahiko Amakasu schlägt vor, «eine zelluloidene Achse zu bauen zwischen Tokio und Berlin», um damit dem US-amerikanischen Kulturimperialismus entgegenzutreten. Erzählzeit: 1930er-Jahre.
Berlin erkürt einen Schweizer für die Aufgabe. Regisseur Emil Nägeli ist in seinem Selbstverständnis nichts weniger als ein Genie. Dazu passt ideologisch, wenn der Chef der deutschen Filmproduktionsfirma Ufa, Alfred Hugenberg, sagt, «Kino sei Krieg mit anderen Mitteln». Doch der grosse Filmplan mit den Japanern ist zum Scheitern verurteilt.
Reale Namen treten neben fiktiven Figuren auf
Autor Christian Kracht lässt in seinem anspielungsreichen Buch reale Figuren auftreten: den genannten Hugenberg, Vorgänger von Jospeh Goebbels als Propagandachef, NS-Auslandspressechef Ernst «Putzi» Hanfstaengl, Filmkritiker Siegfried Kracauer oder Schauspieler Heinz Rühmann und Charlie Chaplin (in einer unrühmlichen Rolle). Nägeli dagegen ist eine fiktive, tragische Figur.
Dieser Schweizer im grossen weltgeschichtlichen Getriebe gibt Gelegenheit für wenig schmeichelhafte Bemerkungen über sein Heimatland: «Die Schweiz und ihre beschränkten Berganhäufungen, diese nur scheinbar lieblich gezackten Massive, wirken sich morphologisch auf die garstige Renitenz ihrer Bürger aus (…). Aber selbst sie sind niemals so arg wie die Schweizer Kulturschaffenden, deren beschränkte kleinliche Attitüde ihn aus seinem Heimatland forttreiben, so dass er es verlässt, so oft es nur geht.»
Regiegenie Nägeli dreht tatsächlich einen Film. Aber nicht den, der geplant war. Zurück in Zürich, in seiner kleinen Wohnung im Niederdorf, spannt er den Film in seinen Projektor: «Nachdem er ihn zweimal angesehen hat, lächelt er still und stolz in sich hinein, weil er weiss, dass es ein Meisterwerk ist.» Es ist ein Film, «den er so genannt hat wie dieses Buch». In den Zeitungen wird Nägeli «als Avantgardist und Surrealist tituliert», «in der ‹Neuen Zürcher› hingegen als debil».
Vieles bleibt in der Schwebe
Auffällig und erneut typisch Kracht ist ein sprachlicher Manierismus, ein bedeutungsschwerer, raunender Sound. Aber nicht Autor Kracht spricht so; das ist der Ton dieser pathetisch angehauchten Figuren der 1930er-Jahre. Christian Krachts unterhaltsame Romane sind oft von köstlicher Komik durchdrungen. Leicht kommt es zu Missverständnissen, wenn die Lektüre eines Kracht-Buches irritiert, weil wegen parodistischer und ironischer Momente vieles in der Schwebe bleibt. Was meint eine Romanfigur, was der Autor Kracht? Eine Ambivalenz stellt sich ein, die nicht immer leicht zu fassen ist, zu falschen Schlüssen und sogar Kontroversen führen kann.
Buch
Christian Kracht
«Die Toten»
Roman
224 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2016).