Der junge Schnösel Harvey Cheyne hat es gut. «Er zog eine Rolle Geldscheine heraus, als ob er sie zählen wollte.» Harvey ist der Sohn eines US-amerikanischen Eisenbahnmillionärs und verzogen wie Anton. Pech nur, dass der Lümmel ins kalte Wasser fällt – und zwar im wörtlichen Sinn. Er wird auf einem Passagierschiff über Bord gespült und landet im eiskalten Atlantik. Die Vorsehung will es, dass die Fischer eines Kutters vor Neufundland den jungen Mann wie einen zappligen Fang aus der See ziehen und ihn trockenlegen. Das ist die Ausgangslage des Abenteuerromans «Über Bord» des englischen Schriftstellers Rudyard Kipling (1865–1936).
Kipling gehört zur Garde der viktorianischen Imperialisten. Er ist im kolonialen Indien aufgewachsen, wurde im Herkunftsland wenig glücklich und fühlte sich mehr im Empire heimisch als in England selbst. Dennoch war Kipling ein glühender Patriot und verfasste im Ersten Weltkrieg zahlreiche Propagandageschichten im Dienst der britischen Regierung, um den Widerstandsgeist zu wecken. Als er seinen Sohn an der Front verlor, wurde Kipling zwar etwas nachdenklicher, aber sein Hass auf die Deutschen wuchs noch mehr.
Der verzogene Harvey kommt bei den Fischern vor Neufundland schlecht an. Doch er versteht schnell, dass er Hand anlegen muss, um ihre Anerkennung zu gewinnen: «Nach einer Stunde Einsatz hätte Harvey alles dafür gegeben, ausruhen zu können. (…) Aber zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, Teil einer Gruppe arbeitender Männer zu sein, war stolz bei diesem Gedanken und hielt verbissen durch.» Das ist die Melodie, die in diesem Buch spielt. Wer zupackt, der bringt es zu etwas.
So ist ein Happy End angesagt. Der verwöhnte Harvey kommt als geläuterter Bursche zu seinen Eltern zurück, die
ihn tot glaubten. Sie erkennen schnell, wie sehr er sich gewandelt hat, und zeigen sich gegenüber den mausarmen Fischern erkenntlich.
Popstar-Status
Kipling war erst 30 Jahre alt, als er diesen Roman 1897 geschrieben hat, wie der deutsche Schriftsteller Gisbert Haefs im Nachwort festhält. Vor allem aber war Kipling damals bereits ein berühmter Mann, den die Leser wie einen modernen Popstar beidseits des Atlantiks verehrten. Er blieb aber stets umstritten. Der meist sehr gerecht urteilende George Orwell hielt ihn für einen Hurrapatrioten; Bertolt Brecht dagegen, obgleich Deutscher, übernahm zahlreiche Motive von Kipling in seinen Schriften. Im deutschsprachigen Raum erhielt der Brite sonst wenig Anerkennung, seine Gedichte sind fast unbekannt. Kiplings Verachtung für die Deutschen, besonders in der Zeit des Ersten Weltkriegs, ist ein Teil der Erklärung dafür.
Die Edition Büchergilde hat nun «Über Bord» in einer wunderbaren Neuausgabe herausgebracht mit trefflichen Illustrationen des Zeichners Christian Schneider. Der Band ist sorgfältig editiert und mit klugen Erklärungen über die damalige Seefahrt versehen. Der Band enthält sogar die Replika einer zeitgenössischen Karte des Nordatlantiks. Wer dieses Werk in der Hand gehabt hat, wird sich für jedes heruntergeladene E-Book schämen.
Buch
Rudyard Kipling
«Über Bord»
Deutsche Erstausgabe («Brave Seeleute»): 1902
Neuauflage: Edition Büchergilde 2015.