Ein Hund oder ein Plastikbeutel im Wind? Für Michael Fehr ist auf den ersten Blick beides dasselbe. Der 32-jährige Autor leidet seit Geburt an einer starken Sehschwäche und sieht nur in Schemen. Aus dieser Unschärfe entsteht seine Literatur – Werke, die im Gegensatz dazu ganz klar und prägnant sind. Was er nicht genau erkennt, lege er sich mit der Fantasie zurecht, sagt der Autor, der durch seine Sehbehinderung eine ganz eigene Wahrnehmung entwickelt hat. Dazu kommt seine Synästhesie – die Fähigkeit, zu Tönen, Wörtern oder Menschen eine Farbe zu sehen.
Gefühl für Rhythmus
Für Lesungen nimmt der Schriftsteller seine Texte vorher auf Band auf und rezitiert sie über Kopfhörer langsam und sorgfältig, mit unverkennbarem Berner Akzent. Mit der Einordnung «Spoken Word» kann der Poet dennoch nicht viel anfangen. Mit dieser Bezeichnung verbinde man oft etwas Mangelhaftes: «Ich habe jedoch höchste Ansprüche an meine Kunst. Sie ist vielleicht ungewohnt oder irritierend, aber nicht beiläufig und nicht effekthascherisch. Es geht mir um die Wiedererfindung von Form, von Rezitation, um echte Geschichten.» Im Gegensatz zu diesem literarischen Selbstbewusstsein steht sein Selbstverständnis: «Ich habe oft das Gefühl, ich sei mit einem Mangel ausgestattet, der verwerflich ist, da ich andere Menschen Energie koste und auf Unterstützung angewiesen bin.»
Durch die Literatur sei der Blues in sein Leben gekommen, sagt Fehr, der sein Gefühl für Rhythmus früher beim exzessiven Schlagzeugspielen erprobt hat. Heute brennt er für die Literatur. Am liebsten würde er morgens nach dem Aufwachen direkt seine Texte ins Mikrofon schmettern. Bei ihm findet das Schreiben nicht im Stillen statt: Er ist immer in Bewegung, während er seine Texte in ein Aufnahmegerät spricht und durch ein für ihn entwickeltes Textverarbeitungsprogramm diktierend überarbeitet.
Der Berner hat sich im Literaturbetrieb eine eigene Stimme verschafft – nicht nur durch die rein übers Ohr funktionierende Herangehensweise. Am Anfang seines Schaffens steht jeweils eine Farbe, ein unscharfes «Traumgesicht». Aus solchen inneren Bildern entwickeln sich Wörter, Phrasen, Geschichten, in die er sich monatelang vertiefen kann. «Am Schluss steht die Reduktion, das Einkochen auf die Essenz.»
Bedächtig und präzise
Bei seinem ersten Buch «Kurz vor der Erlösung» ist er von einem strengen Regelwerk ausgegangen, bei dem nur Texte von fünf bis sechs Zeilen möglich waren. Im Anfang nächstes Jahr erscheinenden Werk «Simeliberg», das in Klagenfurt mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet wurde, hat er diese Regeln gelockert. «Simeliberg» klingt in Anlehnung an das «Guggisberglied» wie ein Lied in Variationen – eine düstere Melodie, die von den sozialen Abgründen in einem Dorf erzählt.
Auf die Frage, was er nebst der Literatur mache, bleibt er kurz still und lässt dann mit einem Lachen ein langgezogenes «nüüt» erklingen. Wichtig sei ihm das Hören, Ausdrücken, Bewegen. Wenn er seine Welt zu erklären versucht, lässt er sich bei der Wortwahl viel Zeit. «Ich bin ein langsamer Mensch», sagt er. Und so bedächtig, aber mit äusserster Präzision geht er auch bei der Komposition seiner Texte vor.
Buch
Michael Fehr
«Kurz vor der Erlösung»
144 Seiten
(Der gesunde Menschenversand 2013).
Lesung
Sa, 23.8., 20.00 Kornhausforum Bern
(Klavier: Simon Ho, Stimme: Michael Fehr)
So, 24.8., 21.00 Alte Reithalle Aarau
(Michael Fehr mit Steffi Blaser, Pablo Haller, Daniel Kissling)