Etwas Ähnliches würde es in der Schweiz nie geben. Prime-Time. Österreichisches Fernsehen mit Nachrichtensendung. Zwei Schauspieler zu Gast im Studio. Einer davon ein Schweizer, den wir kennen von Christoph Blochers Wilhelm-Tell-Produktion auf dem Rütli 2005. Er ist Ensemblesprecher des Burgtheaters (er spielte dort den Tell) und erläutert, wie es zur historischen Kündigung des Burgtheater-Direktors kommen konnte. Es wird nicht ersichtlich, ob ihn der Sturz des bösen Landvogts freute, oder ob er Angst hatte, in Zukunft als Querulant dazustehen und sich deshalb unverbindlich zeigen musste. Die eigene Verantwortung an dem Sturz des Landvogts verschleierte er eher und versuchte stark, jegliche Freude zu vermeiden (was ihm anzurechnen ist, Schadenfreude ist schäbig).
Diese Einladung ins TV-Studio zeigt, dass der Status von Schauspielern und Schauspielerinnen in Österreich höher ist als hier. Ja, auch ihre Arbeitsbedingungen sind viel besser, Überstunden werden bezahlt. Schauspieler sind in Österreich Menschen, die sogar zur Prime-Time ins TV eingeladen werden, weil ihre Handlungen zu konkreten Folgen führen (und nicht nur zu Filmen und Theateraufführungen). Sie werden als Menschen mit Rechten wahrgenommen, nicht nur als Unterhalter und Musen. Ganz anders in der Schweiz (und Deutschland): Schauspieler an Staatstheatern mit Festengagement unterschreiben Sklavenverträge, wenn sie ihre Anstellung fixieren. Sie müssen von Montag bis Sonntag permanent zur Verfügung stehen; sie werden jeweils erst kurz vor Probenbeginn über ihre Rollen informiert. Sie verdienen trotz Dauerverfügbarkeit am wenigsten in den Häusern. Wenn sie aufmucken – gegen einen tyrannischen Regisseur –, dann wird ihnen nie, sondern immer dem – oft durchgeknallten – Regisseur recht gegeben. Meistens spüren sie die Folgen ihrer Aufmuckerei ein paar Monate später, wenn die grossen Rollen für die nächste Spielzeit ausgehandelt werden und sie plötzlich wieder die Hühner rupfende Magd oder den dödeligen Diener spielen müssen.
In diesen Sklavensystemen entsteht dann «gesellschaftspolitische» Kunst, wird der Gesellschaft «der Spiegel vorgehalten». Es werden Stücke über «Banker», die sich zu hohe Bonis auszahlen, entwickelt und gespielt. Der fehlende reale Lohn der Schauspieler soll kompensiert werden durch den Applaus des Publikums, dem «Brot des Schauspielers». Ja, natürlich klatscht das Publikum den herzigen Schauspielern und Schauspielerinnen zu. Denn: Nichts soll sich ändern. Das Publikum klatscht aber nicht den Darstellern zu, sondern sich selber. Es bestätigt sich in seiner Machtposition. In Wien haben die Schauspieler nun das Machtverhältnis umgedreht und den Tyrannen massgeblich mitgestürzt.
Wie meine Gefühle dazu sind? Matthias Hartmann war es, der mir vor 14 Jahren ermöglichte, als Jungspund am grossen Haus in Bochum zu inszenieren. Da muss man dankbar bleiben. Doch: Es war furchtbar, unter ihm zu arbeiten. Die kalte Macht, die er ausstrahlte, wird mir in schlechter Erinnerung bleiben. Ebenso die Geistlosigkeit seiner Entourage. Ich dachte immer (gemeinsam mit einer Freundin, die wie ich auch mal unter ihm arbeitete): Wenn dieser Typ irgendeinmal gestürzt wird, dann entkorken wir eine Flasche Champagner. Jetzt wurde er gestürzt, aus dem Büro geschmissen, ausgelacht und verhöhnt. Das Einzige, was ich nun empfinde, ist Mitleid. Die kurze Schadenfreude beim Lesen der Nachricht kam mir extrem schäbig vor. Obschon ich wirklich aus vollstem Herzen die Schauspieler des Burgtheaters loben möchte für ihre Tat. Trotzdem: Das Mitleid ist grösser als die Schadenfreude.
Obschon er – so finde ich immer noch – einer der bösesten und kältesten Menschen war, die ich je kennengelernt habe. Und das liegt am System. Empathie, die man empfinden muss, um künstlerisch zu arbeiten, ist nur ein Bremsklotz in dieser Betriebshierarchie, nicht nur an den Theatern. In unserer Gesellschaft obsiegen oft jene Gangstertypen, bei denen fehlendes Mitgefühl den Aufstieg ermöglicht und die viel zu grosse Macht über andere erlangen. So herrschen an den staatlich legitimierten Theatern mehr oder weniger gütige «Patrons» (= Diktatoren), die mit totaler Verfügungsmacht über sehr viele Menschen und Gelder herrschen. Das ist so in Basel, Bern, Zürich und Biel-Solothurn. In Finanznöte werden viele dieser Theater kommen, sehr bald schon. Das ist so sicher wie der nächste Meteoriteneinschlag irgendwo, weil die Teuerung, wie in Wien, die Gesamtkosten steigen lässt. Eine Teuerung, die nicht mit steigenden Subventionen ausgeglichen wird. Vor allem die Rangniedersten bekommen dann den Druck zu spüren, die Schauspieler – bis es knallt. Zu lösen wäre das nur, wenn die Schauspieler, die in den Sklavenverträgen arbeiten, bessere Möglichkeiten hätten, sich zusammenzuschliessen, um als relevante und mächtige Stimme aufzutreten. So, wie sie das in Wien gemacht haben. Das würde die Diktatoren zu mehr Vernunft zwingen. Oder sie würden ganz abgeschafft.
Die Schauspieler sollten auch in der Schweiz die Möglichkeit haben, vereint aufzutreten, wenn der Patron unvernünftig und geschäftsschädigend handelt. Das wäre nicht nur an den Theatern löblich, sondern auch in allen Konzernen, in denen dumm und egoistisch gewirtschaftet wird. So seltsam es ist. Das altmodische Burgtheater hat uns gerade gezeigt, dass es viel moderner ist, als man meint.
Samuel Schwarz, Regisseur und Produzent der Theatertruppe 400asa, lebt und arbeitet in Zürich. Im Moment am Film «Der Polder» nach dem gleichnamigen Computerspiel, er kommt nächstes Jahr ins Kino.
www.derpolder.com