Beste Lage in Paris. Dieses Atelier befand sich am Quai Saint Michel 19, auf der vierten Etage, um genau zu sein. Ein fiktiver Besucher hätte Aussicht über die Pont Saint-Michel; die Seine aufwärts würde er die Kathedrale Notre-Dame mit ihren beiden mächtigen Westtürmen sehen. Der französische Maler Henri Matisse (1869–1954) lebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dieser Logis.
Schlüsselfigur Matisse
Matisse malte ein idealtypisches «Intérieur d’atelier» mit einem sorgfältig arrangierten Blumenstrauss sowie einem Glas mit Löffel und Zitrone im Vordergrund vor dem dominierenden braunen Schrank. «Die Bilder von seinem Atelier am Quai Saint Michel manifestieren seine Reflexionen über das Wesen der Kunst», schrieb der englische Kunstkritiker Lawrence Gowing über die raffinierte Anordnung der Dinge.
Henri Matisse ist eine Schlüsselfigur in der neuen Ausstellung «Von Matisse zum Blauen Reiter. Expressionismus in Deutschland und Frankreich» im Zürcher Kunsthaus. Künstlerisch, weil er die klassische Moderne in beiden Ländern massgeblich geprägt hatte.
Matisse war noch nahezu unbekannt, als er sein Atelier im Winter 1903/04 gemalt hatte. Ein Jahr später aber wurde man auf den Maler aufmerksam. Der US-Amerikaner Leo Stein kaufte nach einer Ausstellung in einem Pariser Salon das Porträt «Femme au chapeau», das als ein Schlüsselwerk jener Zeit gilt. Ein Kritiker etikettierte damals Matisse und andere Künstler wie Maurice de Vlaminck als «Fauves», als «wilde Tiere», was belegt, wie weit sie dem gängigen Kunstverständnis ihrer Zeit voraus waren. Der einflussreiche Kunstkritiker Louis Vauxcelles zeigte mit dem Daumen nach unten: «Wann wird dieser wirkliche Maler seinen Weg aus der Sackgasse finden, in der er sich befindet?»
Dafür fand Matisse in Deutschland als junger Maler Anerkennung. 1908 besuchte er erstmals Berlin und lernte die Künstlerbewegung «Die Brücke» kennen, die heute als Wegbereiterin des deutschen Expressionismus gilt. Matisse konnte einige Werke ausstellen, erhielt aber auch hier wenig Beifall der Kritik – und noch weniger vom Publikum.
Erfolg in Deutschland
Matisses Künstlerfreunde rund um Ernst Ludwig Kirchner erkannten jedoch seinen Stellenwert. Er trat zwar der «Brücke» nicht bei, blieb aber als Avantgardist geschätzt. 1909 hatte der Franzose seine erste Einzelausstellung beim Berliner Galeristen Paul Cassirer. Schon 1912 kauften die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München ein Stillleben von ihm. Und ein Jahr später war er bei der Eröffnungsausstellung der Galerie Alfred Flechtheim in Düsseldorf vertreten – mit 13 Werken. Er war in Deutschland nun bekannter als in Frankreich.
Dieser Erfolg zeigt, wie eng die beiden Künstlerszenen verwoben waren: Flechtheim lernte Matisse auf seinen Pariser Reisen ab 1906 im Café du Dôme kennen. Dort traf er auch auf den deutschen Galeristen Wilhelm Uhde, den ersten Mann der Künstlerin Sonia Delaunay. Ebenfalls häufig zu Gast war der deutsch-französische Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, der Picassos Galerist war. Das alles war so kompliziert, wie es tönt. Die Kunstbewegungen der beiden Länder waren damals so verzahnt wie nie.
Zwischen den Fronten
Dann kam der Krieg; Matisse weilte in jenem August 1914 in Berlin. Ähnlich wie sein deutscher Zeitgenosse August Macke stand er plötzlich zwischen den Fronten – mit einer Loyalität für das Vaterland und grosser Verbundenheit gegenüber dem Nachbarn. Matisse meldete sich ebenso wie Macke als Freiwilliger. Doch wurde der Franzose wegen seiner schwächlichen Gesundheit nicht eingezogen. So oder so: Bei aller künstlerischen Nähe zum benachbarten Kulturraum, die Künstler wollten und konnten sich den politischen Verwerfungen der Zeit nicht entziehen.
Matisse litt unter dem Kriegsgeschehen. Sein Elternhaus in der Nähe der nordfranzösischen Ortschaft St. Quentin wurde zerstört; sein Bruder kam in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er selbst musste sich im südwestfranzösischen Küstenstädtchen Collioure nahe der spanischen Grenze in Sicherheit bringen.
Drei Jahre nach dem Krieg waren in Deutschland wieder Werke von Matisse zu sehen. Galerist Flechtheim zeigte im Oktober 1921 eine erste Ausstellung mit deutscher und französischer Kunst; bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 konnte Matisse fast jährlich in Deutschland ausstellen. «Er hat (uns) eine neue Form des Sehens gezeigt und zugleich ein neues Weltbild», resümierte der deutsche Kunsthistoriker Kurt Glaser damals. Aber dann kam die nächste politische Trennung zwischen den beiden Nationen.
Ausstellung
Von Matisse zum Blauen Reiter. Expressionismus in Deutschland und Frankreich
Fr, 7.2.–So, 11.5.
Kunsthaus Zürich
Klassische Moderne
Die Franzosen Paul Cézanne, Paul Gauguin, Henri Matisse, Robert Delaunay im Vergleich mit den Deutschen Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner oder Max Pechstein: Das Zürcher Kunsthaus vergleicht die Expressionisten der beiden Nachbarländer in der Ausstellung «Von Matisse zum Blauen Reiter»: «Mit wahren Farbexplosionen reagierten die deutschen Künstler der ‹Brücke› und des ‹Blauen Reiters› auf die Werke der französischen Postimpressionen und der ‹Fauves›», heisst es im Begleittext des Museums. Die Ausstellung soll dokumentieren, dass der «Expressionismus eine im Geist des Kosmopolitismus entstandene Bewegung ist, die von produktivem Austausch geprägt war». 107 Werke von 38 Künstlerinnen und Künstlern liefern neue Erkenntnisse über deutsch-französische Sichtweisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und ist damit «eine sinnliche Gesamterfahrung mit überraschenden Gegenüberstellungen».