Wir fahren ans Meer. Und die Fahrt führt durch die Nacht, denn Klimaanlage haben wir nicht. Mit etwas Wegglück kommen wir vor der Mittagshitze an. Die Nacht allein ist eine grosse Entdeckung. Wir wachen in den Rücksitzen und bestaunen die Silhouetten der Berg- und Hügelketten, auf denen rote Lichter hocken. Die markieren die Spitzen der Funkantennen, erklärt Vater, als Warnung für Helikopter und kleine, tief fliegende Flugzeuge. Ich male mir Feuerbälle aus über der Dunkelheit. Mutter beschleunigt. Gebettet in Plüschaffen, getrennt durch die übergrosse Kühlbox, verlieren meine Schwester und ich uns im Motorengesang.
Bei Mailand steigt die Sonne über den Horizont. Wie ein Pfirsich, sagt Mutter, die plötzlich Beifahrerin ist. Wie ein Pfirsich, sagt Vater am Steuer. Ich denke, nicht wie ein Pfirsich. Weiss aber auch nicht genau, wie ein Pfirsich aussieht, denn ich mag kein Obst, und dass es nun Eistee mit Pfirsichgeschmack gibt, wird eine Enttäuschung dieser Ferien.
Der Ort, an den uns die Eltern fahren, ist ein um Wohnkomplexe und Einkaufsstrassen erweiterter Yachthafen, in dessen Hinterland der englische Thronfolger Polo spielt. Wir mieten eine Wohnung, die bereits viel von ihrem wenigen Chic eingebüsst hat. Wir besitzen jedoch keine Yacht, und wir spielen kein Polo. Als wir einen Ausflug zum Feld und den Stallungen unternehmen, spielt auch der Prinz nicht, und selbst wenn er es täte: Ich finde die Wagen der Reiter interessanter. Bleibe mit Mutter auf dem Parkplatz, um die Kühlerfiguren zu bestimmen. In den Einkaufsstrassen stehen viele Ladenlokale leer, weil die Konzerne noch nicht oder nicht mehr an das Aufblühen des Retortendorfs glauben. Doch es gibt immerhin eine Boutique, in der Vater einen Kaschmirpullover aufgeschwatzt bekommt, der so hellblau ist, dass er ihn zu Hause nicht wieder tragen wird. Und es gibt ein Spielwarengeschäft. Ein Spielwarengeschäft mit gelber Glibbermasse. Mit Klickarmbändern, von denen Mutter durchtrennte Pulsadern befürchtet. Mit Plastiksoldaten, doch es ist Krieg irgendwo. Und mit aufblasbaren Schwimmgefährten. Schwertwale sind gerade überaus beliebt, aber meine Schwester möchte einen Delfin. Mir ist es egal, weil ich weder ein Armband noch einen Soldaten ertrotzen kann.
Am Strand trage ich T-Shirts. Wegen der Sonne. Oder weil ich so bleich und mager bin, dass meine Eltern fürchten, ich entsetze die anderen Strandgänger. Nichtsdestoweniger baggere ich zufrieden Kanäle in den Schatten des Sonnenschirms, um Murmeln hindurchzuschubsen. Das fehlende Obst gleiche ich aus durch Vanilleeis, und das Meer bereitet mir Unbehagen. Es ist salzig, kühl, unergründlich. Meine Schwester möchte bei jeder Gelegenheit den Delfin in die Wellen tragen. Von Vater tragen lassen. Aber was heisst schon Wellen. Die Wellen hier taugen gar nichts. Da reite ich den Delfin lieber an Land.
Hinter den traurigen Augen sind zwei Griffe angebracht, und die Finne verhindert, dass ich abrutsche. So sitze ich auf dem Tier, das ich mittlerweile lieb gewonnen habe, reise träumerisch zu Palminseln, zu Riffen, zu Unterwasserwelten, wo Muscheln singen und ich die Quallen harpuniere. Reite so lange auf dem Delfin, bis meine Schwester, die wieder ins gegenständlich vorhandene Meer möchte, vor Zorn die Luft ablässt. Nach zwei Tagen kauft Vater eine Fusspumpe.
Eines Morgens wehen rote Flaggen an den Stränden der Bucht; über allen Hochsitzen der Rettungsschwimmer wehen sie. Die Sonne scheint, und die See scheint oberflächlich ruhig, doch der Wind geht ablandig, die Strömung reisst ins offene Wasser. Das Badeverbot stört mich nicht, Vater aber will den Delfin im Auto lassen. Der Wind könnte ihn davontragen. Weit hinaus. Die Vorstellung gefällt mir. Ich sage es nicht. Ich sage, dass ich bei ihm bleibe, wenn der Delfin im Kofferraum warten muss. Immer wieder und immer weinerlicher. Vater will seine Ruhe, also kommt der Delfin mit.
Am Strand ist wenig los. Meine Schwester hat sich eine Erkältung eingefangen und schläft. Vater schläft ebenfalls, nachdem er missmutig die Fusspumpe bedient hat. Als Mutter langsam ihr Buch sinken lässt, reite ich noch eine Weile weiter auf dem Delfin, stehe dann plötzlich auf und weiss, was zu tun ist. Ich überprüfe von Nahem, ob meine Familie wirklich döst, bevor ich das Kunststofftier durch die leeren, vorderen Liegestuhlreihen ziehe. Die meisten Sonnenschirme am Strand stehen geschlossen, aber sie stehen flatterig. Ich hoffe auf die nächste Böe. Und sie kommt. Sie rührt an den Delfin, hebt ihn sachte und trägt das schlingernde Ding über den Sand. Regungslos stehe ich da. Ein weiterer Windstoss übernimmt, bläst es über den angeschwemmten Tang auf die Dünung. Der Delfin schwirrt übers Wasser und schwirrt und hört nicht auf. Bald hat er die Nichtschwimmergrenze erreicht, bald den Motorbootkorridor. Der herbeieilende Bademeister verwirft die Hände, und da ich letzthin diesen Artikel über die gigantischen Plastikströme in unseren Ozeanen gelesen habe, möchte ich mich nach fünfundzwanzig Jahren endlich bei ihm entschuldigen. Ich hoffe, er liest das. Scusi.
Andri Perl
Andri Perl ist 1984 in Chur geboren. Er hat in Zürich Germanistik studiert und arbeitet als freischaffender Autor. 2013 ist sein zweiter Roman «Die Luke» im Salis Verlag erschienen. In diesem Jahr wurde sein erstes Theaterstück «Die Notlösung» im Theater Chur uraufgeführt. Andri Perl ist zudem als Rapper der Hip-Hop-Band Breitbild auf der Bühne zu sehen. Der Autor lebt in Chur.