Madame Jane Avril hatte eine schwere Jugend – und war eine bestechende Tänzerin. Jeanne Richepin (1868–1943), wie sie hiess, landete nach Misshandlungen durch ihre sitzengelassene Mutter in einem «Nervenkrankenhaus» und wurde nur entlassen, nachdem Pflegerinnen ihr Bewegungstalent entdeckten.
Der französische Künstler Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) lernte Jane Avril im damals eben eröffneten Vergnügungslokal Moulin Rouge beim Place Pigalle im Pariser Montmartre kennen. Er zeichnete die junge Frau unzählige Male bei ihren Auftritten, und er schuf dieses Werbeplakat Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Berner Kunstmuseum zeigt diesen Druck nun in seiner neuen Ausstellung «Toulouse-Lautrec und die Photographie». Der Gestalter hat zwar selbst nie fotografiert, aber «er hatte ein fotografisches Auge, wie kaum ein Künstler jener Zeit», wie das Museum schreibt. Er war sich dessen bewusst und gab viele Aufnahmen in Auftrag, um sie später künstlerisch zu verwenden. Die Ausstellung zeigt neben seinen Werken die entsprechenden Fotos in einer Gegenüberstellung.
Aus gutem Haus
Lautrec war vor allem als Zeichner mit dem schnellen Strich erfolgreich, so wie man ihn als Jugendstilikone der «Belle Epoque» von französischen Kiosk- oder Buchladenaushängen her kennt. Er fertigte unzählige Lithografien in fast gewerblicher Manier an, bestand aber künstlerisch auch als Porträtist. Er hatte die seltene Gabe, das menschliche Wesen mit seinen Besonderheiten in kurzer Zeit zu erfassen und das Empfundene in unterschiedlichen Techniken umzusetzen.
Da Lautrec aus begütertem Haus kam, konnte er sich eine Ausbildung bei zeitgenössischen Malern leisten, ohne von ihnen allerdings speziell beeindruckt gewesen zu sein. Überhaupt schien ihm die Kunst anderer wenig zu bedeuten, obgleich Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts europäische Kunstmetropole schlechthin war, von der die meisten Impulse ausgingen. Nur einem Zeitgenossen konnte sich Lautrec nicht entziehen: Er bewunderte den Impressionisten Edgar Degas, der ebenfalls aus betuchten Verhältnissen kam.
Ein Aussenseiter
Toulouse-Lautrec war ein Gezeichneter, nicht nur äusserlich wegen seines durch eine Erbkrankheit bedingten Kleinwuchses. Er war ein gesellschaftlicher Aussenseiter, der zwar einer adligen südfranzösischen Familie entstammte, sich aber der Halbwelt von Paris zuwandte. Im Quartier Montmartre fühlte er sich als Behinderter akzeptiert. Er war mehr als ein Voyeur, wie das Beispiel der Tänzerin Marcelle Lender zeigt. Lautrec zeichnete auch sie oft und konnte eines der Bilder in einer Zeitschrift veröffentlichen. Dieser Auftritt machte die rothaarige Schönheit kurz vor der Jahrhundertwende zu einer Pariser Berühmtheit. Ein symbiotisches Verhältnis zwischen dem Künstler und der Artistin; sie inspirierte ihn, er verschaffte ihr gesellschaftliche Anerkennung.
Aber Lautrec konnte seiner wohlbehüteten Herkunft nicht entkommen, obgleich ihn das Bürgertum ächtete. Im Einzelfall erkannte man jedoch seine künstlerischen Fähigkeiten, wie das Porträt der Russin Misia Sert am Flügel zeigt. Die junge Frau war damals erst 25 Jahre alt und schon zehn Jahre mit dem französischen Verleger Tadeusz Natanson verheiratet. Diese Ehe rettete sie vor dem Verkümmern im Kloster Sacré-Cœur, wo sie ihr Vater einsperren liess. Die Frau stand damals im Mittelpunkt der Pariser Bohème, führte ein in jeder Beziehung ungebundenes Leben und wurde von Auguste Renoir, Félix Vallotton und Edouard Vuillard verewigt. Man könnte glauben, dass sich Toulouse-Lautrec in diesem Milieu ebenfalls wohlgefühlt hätte, wahrscheinlich war das Gegenteil der Fall. Der Mann schien die legendären Pariser Künstlerzirkel zu meiden.
Lautrec war ein unglücklicher, introvertierter Mensch. Er litt unter seiner Behinderung, dauerhafte Bindungen mit Frauen konnte er nicht ertragen. So scheiterte seine Beziehung zur Künstlerin Suzanne Valadon schmerzhaft; sie war eine eigenständige Frau, die damals in Montmartre als eine weit herum bekannte und anerkannte Persönlichkeit galt.
Wachsende Isolation
Gut möglich, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Zwänge einer dauerhaften Verbundenheit entgegenstanden. Lautrecs Isolation wuchs zusehends. Zumal der Künstler auf seinen nächtlichen Streifzügen durch das Pariser Milieu dem Alkohol übermässig zusprach, seine Gesundheit war angeschlagen. Er verstarb bereits mit knapp 37 Jahren – standesgemäss im Tod – auf dem südfranzösischen Familienschloss.
«Toulouse-Lautrec und die Photographie»
Fr, 28.8.–So, 13.12. Kunstmuseum Bern