Schön, jung und liberal: So erschien Friedrich III. noch als Thronfolger seinen Zeitgenossen. Doch kaum im Amt, raffte ihn 1888 der Kehlkopfkrebs dahin, und die deutsche Geschichte endete in der Katastrophe: Andernfalls, so die gängige historische These, wäre dem Land der überforderte Kaiser Wilhelm II. erspart geblieben; der Erste Weltkrieg hätte wahrscheinlich nicht stattgefunden. So lässt sich zumindest nach einem auf Personen zentrierten, wenn auch überholten Geschichtsbild das Ende des 19. Jahrhunderts lesen.
Adliger Kleingeist
Der deutsch-britische Historiker Frank Lorenz Müller korrigiert in seiner neuen Biografie «Der 99-Tage-Kaiser» dieses idealisierte Bild von Friedrich III. (1831–1888). In seiner Darstellung zeichnete sich dieser Monarch durch «Undurchschaubarkeit, Unbeständigkeit und Resignation» aus. Er war demnach kein liberaler Vordenker, sondern ein etwas verwirrter Adliger, der den Parlamentarismus verachtete und fest in der preussisch-militärischen Tradition verankert war. Müller zitiert einen zeitgenössischen deutschen Diplomaten, der «aristokratische Gelüste im Gewande sentimentaler Liberalität» ausmachte.
Doch was interessiert den heutigen Leser ein adliger Kleingeist fast 130 Jahre nach dessen Tod? Historiker Frank Lorenz Müller hat mit seiner Biografie mehr als das Porträt eines vorzeitig verstorbenen Monarchen geschrieben. Er zeichnet anschaulich die politischen Auseinandersetzungen im wilhelminischen Deutschland des 19. Jahrhunderts nach. Er belegt, wie schwer es der politische Liberalismus in Deutschland im Vergleich zu andern Ländern wie etwa Grossbritannien hatte.
Und er zeigt, dass die Hegemonie Preussens lange Zeit ein deutsches Nationalbewusstsein verhinderte. In dieser Frage kommt Friedrich III. aus heutiger Sicht wahrscheinlich die wichtigste politische Bedeutung zu: Er vermochte, im Gegensatz zu seinem Vater Wilhelm I., die Anerkennung der südlichen Landesteile Bayern und Württemberg zu gewinnen. Unter anderem wegen seiner militärischen Erfolge im deutsch-französischen Krieg 1870/71 als Feldherr – nicht zwangsläufig ein Leistungsausweis für einen der Zivilgesellschaft verpflichteten Politiker.
Liberaler Zauderer
Friedrichs Sympathien «blieben der ererbten preussischen Tradition in ihrer Enge und Strenge zugewandt, während seine Überzeugungen der modernen liberalen Doktrin folgten», schrieb ein Biograf bereits Ende des 19. Jahrhunderts. So betrachtete Friedrich III. die aufstrebenden Sozialisten als Staatsgefahr. Aber er wandte sich genauso gegen die in Deutschland gesellschaftlich stets breit akzeptierten Antisemiten.
Spannend ist zu lesen, wie sich die Diskrepanz zwischen liberalem Wunschdenken und politischer Wirklichkeit entwickelte: Friedrich III. war mit der ältesten Tochter der englischen Königin Victoria verheiratet. «Vicky», wie sie sich nannte, war eine starke, ausgesprochen liberale Persönlichkeit, die den preussischen Obrigkeitsstaat verachtete, eine Schreckensfigur für den reaktionären Kanzler Bismarck. Sie soll laut dessen Überzeugung Friedrich III. politisch geprägt haben. Wie Müller schreibt, dominierte «Vicky» tatsächlich den adligen Haushalt, aber ihr Mann besass weder das Charisma noch die politische Weitsicht, sich in ihrem Sinn politisch durchzusetzen.
Imagepflege
Im Zeichen einer modernen Imagepflege erkannte Friedrich III. die Bedeutung der aufkommenden Massenpresse. So pflegte er sein politisches Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit sorgfältig. Er verlangte beispielsweise, dass ihn Kriegsmaler bei seinen Feldzügen auf der Leinwand heroisierten, etwa im kurzzeitigen deutsch-dänischen Krieg 1864. Und Friedrich glänzte als fürsorglicher Familienvater in der deutschen Öffentlichkeit, was genau dem bürgerlichen Glücksideal jener Zeit entsprach. Müller schreibt von einer «Vorbildhaftigkeit des häuslichen Lebens».
«Der 99-Tage-Kaiser» war ein Blender. Er hatte das Glück, dass das Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinem Glorienschein politisch erlag. Ganz anders als die Arbeiterschaft: Bei den Sozialisten kam der militärische Preusse, der ein Liberaler sein wollte, ganz schlecht an.
Frank Lorenz Müller
«Der 99-Tage-Kaiser»
459 Seiten
(Siedler 2013).