In jener Zeit, als wir in der Schweiz noch acht Monate Winter hatten und vier Monate keinen Sommer, trat ich eine Stelle in der hiesigen Pathologie an. Ich bestand damals einzig aus Haut, Knochen und Unsicherheit. Wobei, eigentlich war ich mir noch nicht einmal dessen sicher. Vielleicht war es auch einfach dieses Gefühl der Leere, das an mir nagte, diese unerschütterliche, aber gleichsam unerklärliche Gewissheit, dass mir etwas fehlte.
Vielleicht deshalb mochte ich meine Arbeit. In der Pathologie gibt es wenig Raum für Unsicherheiten. Lebende können sich zuzeiten wandeln, sie lügen und flunkern, ändern ihre Meinung. Ein Toter aber ist etwas Endgültiges. Etwas Wahreres kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen.
Als ich im Krankenhaus anfing, hatte ich einen Berg Akten vor mir. Alles, was in der Gegend eines unnatürlichen Todes gestorben war, ging durch meine Finger. Im Wesentlichen ging es darum, die Fotos der Leichen nach Todesursache, Jahr, Geschlecht und Alter zu ordnen und ein Schlagwortregister zu erstellen. Alle Erstickungstode aus dem Jahr 1989. Sämtliche Methanvergiftungen im Herbst 1993. Multiple Schädelfrakturen bei Männern zwischen 20 und 30. So in etwa.
Am Morgen meines ersten Tages in der Klinik erwartete mich der Abteilungsleiter in jenem Raum, der fortan mein Arbeitsplatz sein sollte. Professor Hagestolz, ein ausgemergelter Schwabe mit einem grundlosen Grinsen im Gesicht, der sich vielleicht etwas zu sehr mit seiner Tätigkeit identifizierte, erklärte mir meine Aufgabe. Dann gab es einige Probedurchläufe, am Abend schaute er sich die ersten Ergebnisse an. Danach überliess er mich mir selbst und damit: meinen Träumereien.
Wer in der Pathologie arbeitet, schaut früher oder später in die tiefsten Abgründe der Menschen. Die Augen davor zu verschliessen ist sinnlos: Der Ort, an dem die Bilder in deinem Kopf aufscheinen, liegt nämlich weiter hinten. Also: Du gehst daran zugrunde, entweder, oder du legst dir eine Faszination zu für deine Arbeit. Überflüssig zu erwähnen, dass auf mich Letzteres zutraf.
Nach einigen Wochen im Krankenhaus fing ich an, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen, und das meine ich ganz wörtlich. Ich hatte Listen mit jenen Todesfällen zusammengestellt, die mich am meisten bewegten, und nun legte ich mir eine Polaroid zu, mit der ich für meine Zwecke Abzüge von den besten Obduktionsfotos fertigte. Tag für Tag wuchs so mein Kabinett der Schrecklichkeiten, und ich würde sagen, dass die Betrachtung dieser Bilder zwar nicht die Leere in mir ausfüllte, dass sie diese aber doch als weniger schmerzhaft empfinden liess.
Natürlich überkamen mich auf dem Heimweg, wenn ich daran dachte, dass ich gerade mit dem Opfer eines Schambeinsteckschusses und zwei abgetrennten Mittelhandknochen in meiner Tasche umherging, zuweilen Schuldgefühle. Andererseits dachte ich mir: Es sind ja nur Bilder. Und: Sie sind ja schon tot.
Das grössere Problem war, dass es selbstverständlich streng verboten war, irgendwelche Abzüge zu fertigen, aber was hätte ich anderes tun sollen? Ich konnte ja schlecht die Leichen selbst ablichten. Und einfach mit dieser Leidenschaft aufhören – das konnte ich nicht.
Eine Woche vor Ostern geschah, was geschehen musste. Als ich kurz vor Feierabend von der Toilette kam, stand auf einmal Professor Hagestolz in meinem Büro. Vor ihm meine umgestürzte Tasche, die ihren widerwärtigen Inhalt über die Tischplatte erbrochen hatte. Rasch riss ich die Bilder an mich und stopfte sie in die Tasche zurück, so als bestünde noch die Möglichkeit, sie vor Hagestolz zu verbergen, wenn ich sie nur genug schnell verschwinden liesse. Gleichzeitig warteten meine Ohren ungeduldig auf Hagestolz’ tadelnden Worte, und jede Sekunde seines Schweigens versetzte mich in noch grössere Aufregung.
– Wollen Sie diese Bilder nicht hier lassen?, fragte er endlich.
– Nein!, platzte es aus mir heraus, und ehe er etwas hinzusetzen konnte, rannte ich davon.
Die nächsten Tage wartete ich auf eine Reaktion, irgendeine. Ein klärendes Gespräch, eine schriftliche Verwarnung, die fristlose Kündigung – vergeblich. Und das war es, was mich vielleicht am meisten beunruhigte: Dass ich weiterhin zur Arbeit ging und einfach nichts geschah. Oder sagen wir: Nichts, was ich erwartet hätte.
Einige Tage später allerdings, es war gerade vor der Mittagspause, geschah es: Ich hatte eben die dritte Akte des Tages abgelegt und machte mich daran, mich anzuziehen, da griff ich – mehr aus Neugier als aus der Hoffnung, noch etwas Sinnvolles leisten zu können – nach dem nächsten Ordner. Und was ich dort sah, liess mir den Blick vor den Augen verschwimmen: Aus der Akte starrte mir aus einem aufgedunsenen Gesicht ein 21-jähriges Mädchen entgegen, und das wusste ich deshalb so genau, weil das nichts anderes als mein eigenes Gesicht war. Ich schüttelte heftig den Kopf, doch das Bild wollte nicht weichen. Rasch riss ich den Personalbogen heraus, doch was hier stand, war nicht weniger beunruhigend. Zwar war der Name ein anderer, doch das Geburtsdatum, der Geburtsort und vor allem: die Eltern – alles stimmte mit mir überein. Eine Warnung von Hagestolz?, ging es mir augenblicklich durch den Kopf. Ein schlechter Scherz? Ja. Etwas anderes konnte es im Grunde nicht sein.
Eine Stunde später fand ich mich in einem Park wieder. Ich sass auf einer Bank und bemerkte, wie ich mich den Wellen ergab, die in kurzen Abständen durch meinen Leib rollten. In meinem Kopf indessen fand sich die Gewissheit: Das war alles kein Scherz. Vielmehr hatten sich alle Befürchtungen bewahrheitet, all die Lügen meiner Eltern lagen offen dar.
Ich bemerkte, wie mir erneut vor den Augen der Blick verschwamm. Die roten Tulpen um mich herum, die gleich riesigen Wunden ihr Innerstes offenbarten, zerrannen mir zu fleischigen Klümpchen. Alles in mir fühlte sich so an, als hätte ich meine Schwester verloren. Und gleichzeitig wusste ich: Im Grunde hatte man mir endlich eine geschenkt.
Demian Lienhard
Der 1987 im aargauischen Baden geborene Demian Lienhard hat in Klassischer Archäologie promoviert und arbeitete danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sein kürzlich erschienenes, vielgelobtes Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (Frankfurter Verlagsanstalt) spielt während der Zeit der Jugendunruhen in der Schweiz der 80er-Jahre. Der Autor lebt in Zürich. Zurzeit reist er im Rahmen eines archäologischen Reisestipendiums in der Weltgeschichte umher.
Lesung
Sa, 28.9., 20.00 Bücher zum Turm Bischofszell TG