Jeder hat seinen eigenen Ehrgeiz. David Garrett ist stolz darauf, dass er in einer englischen TV-Show den «Hummelflug» des zaristischen Komponisten Nikolai Rimski-Korsakow in nur 66,56 Sekunden spielen konnte. Das sind 13 Noten pro Sekunde – fehlerfrei, versteht sich. Chapeau. Was soll man mehr dazu sagen? Vielleicht: Die Leistung kam nach einer weiteren Steigerung ins Guinness-Buch der Rekorde, aber nicht für lange, denn ein Konkurrent vermochte Garrett zu überholen. So undankbar kann ein Geigerleben sein.
Immer und überall
Der 35-jährige Garrett wird den Rückschlag mit Fassung weggesteckt haben. Denn der junge Mann, der eigentlich David Christian Bongartz heisst, hat bereits mehr erreicht als viele andere im ganzen Leben. Mit zarten zwölf Jahren hatte er den ersten Plattenvertrag, wenig später dockte er bei der Deutschen Grammophon an, seither hat er unzählige Auftritte in Konzerten und TV-Shows. Wo immer ein Unterhaltungsregisseur seine Sendung mit Kultur aufpeppen will, tritt Garrett als Gast auf: Er hat mit Crossover eine Marktlücke entdeckt, die allenthalben ankommt. Das heisst, Garrett holt die klassische Musik aus den elitären Musiktempeln, interpretiert die Musik neu, reichert sie mit Rock, Jazz und Pop an – und schon ist sie allgemein zugänglich. Der junge Mann hat damit ein Vermögen gemacht.
Als Gast in Interlaken
Berührungsängste kennt er keine, notfalls arbeitet er für ein Album mit dem Süssstoffsänger Xavier Naidoo zusammen. Ins Repertoire von Garrett gehören auch T-Shirts, die er in seinem Namen verkaufen lässt. Und wie üblich in solchen Fällen gibts sogar ein Parfüm, dessen Duft ein bisschen an die Ausstrahlung des Meisters erinnern soll.
Zu seinem farbenfrohen Image gehört die äussere Erscheinung. Garrett tritt nicht etwa als geschniegelter Schönling auf.
Er ist meist unrasiert, trägt das Haar lang oder zu einem adretten Bürzi zusammengebunden, damit die Strähnen beim Auftritt nicht stören.
Nun ist er an den Interlaken Classics zu sehen. Nicht mit Crossover, sondern als Solist unter der Leitung von Zakhar Bron, der einst einer seiner ersten Lehrer war. Auf dem Programm stehen Schuberts Sinfonie Nr. 8, «Die Grosse», sowie ein Abend mit Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur, op 35.
David Garrett kommt aus einem musikalischen Haus. Sein Vater ist Jurist und Geigenauktionator, seine US-amerikanische Mutter eine ehemalige Primaballerina. Die Eltern erkannten früh das musikalische Potenzial ihres Sprösslings und liessen ihn unter dem Namen der Mutter auftreten – Garrett tönt nun mal mondäner als Bongartz und passt auch besser zum Stradivari-Instrument, das er spielen darf.
Keine Medienscheu
Der Sohn erfasste schnell, wie er sich am besten im Licht der medialen Öffentlichkeit verkauft. So scheut er sich nicht, der deutschen «Bild» von seiner neuen Liebe zu erzählen: «Dass sie die richtige Person ist, habe ich in dem Moment gemerkt, als ich mich nicht mit meiner Arbeit zurücknehmen musste.» Allerdings war diese Beziehungstoleranz seiner Partnerin anscheinend von kurzer Dauer. Denn ein paar Monate später wusste die Illustrierte «Gala», dass der Musiker wieder zu haben sei. Auch das war einen Artikel wert.
So einer hat es schwer bei der traditionellen Kritik. Die «Zeit» schrieb unter dem Titel «Habt mich bitte lieb!» boshaft über einen Auftritt: «All dieses Gelernte überträgt Garrett mehr oder weniger passend auf das brahmssche Kammermusikgeflecht. Und doch will sich kein Zauber einstellen, nichts, was die beziehungsreiche Liedthematik des Allegro amabile in der A-Dur-Sonate über ein banales ‹Hier bin ich halt und singe› hinausheben würde….» Grämen werden ihn solche Worte kaum, denn schlimmer als eine schlechte Kritik ist gar keine. So verfolgt der Geiger seine Laufbahn unbeirrt und mustergültig.
Nur einmal brach er aus – mit 17 Jahren. Da litt der Jugendliche unter dem Eindruck, sein Leben werde wegen der Karriere fremdbestimmt. Deshalb brannte er durch, zu seinem Bruder nach New York – und kehrte bald darauf reumütig zu den Eltern zurück. Die Episode ist längst vergessen. Garrett gehört zu den Anerkannten der internationalen Musikszene.
Drei Fragen an David Garrett: «Der Begriff Show hat nicht viel mit mir zu tun»
kulturtipp: Wie lässt sich klassische Kunst für junge Leute zugänglicher machen?
David Garrett: Klassische Musik ist absolut zugänglich. Musik interessiert junge Menschen. Die Frage ist nur, wer sie wie präsentiert. Ich glaube daran, dass gerade junge klassische Musiker die Verantwortung haben, ihre Generation mit dieser Musik anzusprechen. Das versuche ich zumindest immer.
Zum Beispiel mit einer Fernsehshow?
Mit gar keiner Show. Inszenierungen wird es immer geben, wenn es um Produktionen geht. Aber der Begriff Show hat nicht viel mit mir zu tun, da es für mich im Endeffekt immer um ein qualitatives musikalisches Produkt geht.
Sind regelmässige Auftritte am Fernsehen heute Voraussetzung, um auf dem umkämpften Markt zu reüssieren?
Nicht zwingend. Natürlich ist das Fernsehen immer noch ein breites Medium, das man nutzen sollte. Aber darüber hinaus hat das Internet an Gewicht gewonnen. YouTube und diese Social-Media-Sites wie Facebook, Instagram und Twitter. Man sieht es ja: wenn man da Fans für sich gewinnt, ist das Fernsehen nicht mehr so wichtig.
David Garrett
Explosive
(Decca 2015).
Interlaken Classics
So, 17.4., 17.00
Sinfoniekonzert 3: Zakhar Bron
Festival Orchester mit David Garrett
Werke: Schubert, Sinfonie Nr. 8, C-Dur, «Die Grosse» / Tschaikowsky, Violinkonzert D-Dur
Mo, 18.4., 19.30
Sinfoniekonzert 4: Zakhar Bron
Festival Orchester mit
David Garrett, Paloma So Chin Cham, Ellinor D’Melon und
Daniel Lozakovitj (alle Violine)
Werke: Wieniawski, Thème original varié, op.15 / Paganini,
I Palpiti, op. 13 / Tschaikowsky,
Violinkonzert D-Dur, op. 35
Mo, 8.5., 17.00
Soirée: Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester
Mahler, Sinfonie 9 D-Dur
Kursaal Interlaken (alle Konzerte)
Infos:
www.interlaken-classics.ch