kulturtipp: Sie könnten schon seit ein paar Jahren Ihren Ruhestand geniessen. Weshalb stehen Sie noch auf der Bühne und vor den Kameras?
Heidi Maria Glössner: Weil es mir sonst langweilig wäre. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Schon als Kind spielte ich gerne Theater. Zu Hause würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Ich weiss nicht, ob das Reisen mein Leben genug ausfüllen würde. Aber ich habe mittlerweile natürlich weniger auf dem Programm als vor einigen Jahren.
Ist es für Sie eine Sucht, Theater zu spielen?
Eine Sucht? Ich weiss nicht. Die Neugier treibt mich ständig an weiterzumachen. Sich in das Leben anderer Menschen hineinzudenken, bleibt ewig spannend. Hätte ich diese Herausforderung nicht mehr, würde ich geistig schnell abbauen. Das Theater ist meine Triebfeder, die das Leben spannend macht.
Was reizt Sie mehr: Film oder Theater?
Ich mache beides gern. Im Film ist es die Intimität, im Theater die Unmittelbarkeit, die mich faszinieren.
Haben Sie noch freie Zeit für sich?
Es kommt ganz darauf an, in welcher Phase ich gerade stecke. Als ich vergangenen Sommer die zwei Filme «Usfahrt Oerlike» und «La Giovinezza» gleichzeitig drehte, waren alle Tage beruflich ausgefüllt. Ich war dauernd von einer Kostümprobe zur anderen unterwegs und musste regelmässig den Drehort wechseln. Nach den Dreharbeiten hatte ich vier Wochen Ferien, und dann gingen schon die Theaterproben los. Für die abendlichen Vorstellungen von «Der Besuch der alten Dame» in St. Gallen pendle ich jeweils von Bern in die Ostschweiz und komme spät in der Nacht wieder nach Hause, wenn am andern Morgen Proben für «Die schöne Helena – Plädoyer für eine Schlampe» im Theater Bern anstehen.
Wie gut können Sie zwischen Auftritten abschalten?
Wenn nur Vorstellungen auf dem Programm stehen, bin ich relativ entspannt. Das aktuelle Stück ist aber den ganzen Tag im Hinterkopf präsent. Zwischendurch gibt es Tage, an denen ich nicht auf der Bühne stehe. Das ist wie Ferien.
Ist Lampenfieber noch ein Thema?
Ja, leider. Ich weiss gar nicht, ob es früher weniger schlimm war als heute. Bei den Musicals wie «Cabaret» habe ich immer Bammel, weil ich singen muss. Beim aktuellen Helena-Monolog stehe ich während 70 Minuten ganz alleine auf der Bühne. Obwohl es bisher super gut gelaufen ist, bin ich immer aufgeregt.
Aktuell spielen Sie im Kinofilm «Usfahrt Oerlike» eine ältere Dame, die freiwillig ins Altersheim zieht – Tod und Schicksalsschläge sind zentral. Ist Ihnen diese Rolle nahe gegangen?
Natürlich ging mir das Thema nahe. Es hat mich persönlich in eine neue Welt hineingeführt. Ich habe das erste Mal in einer Altersresidenz gedreht. Dort kam ich mit vielen Leuten ins Gespräch, die mit ihrer Wohnsituation interessanterweise glücklich sind. Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich ins Altersheim müsste.
Sie standen auch schon in Los Angeles auf der Theaterbühne. War der Sprung ins nahe gelegene Hollywood kein Thema?
Doris Day, Rock Hudson und andere boten mir damals ihre Hilfe an. Aber zu dieser Zeit war ich noch nicht einmal auf einer Schauspielschule, obwohl ich in Los Angeles Theater spielte. Ich wollte das Handwerk zuerst richtig erlernen. Zudem fand ich es beim Zuschauen damals langweilig, wie Schauspieler einzelne Szenen unzählige Male wiederholen mussten, bevor der Regisseur zufrieden war. Beim Theater ist das anders. In der Vorstellung erzählt, ja lebt man die Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Ich habe es nie bereut, nicht in Hollywood geblieben zu sein.
Was hat Sie denn gereizt, auf der Bühne zu stehen?
Mich in andere Personen hineinzufühlen, mich zu verwandeln und ein anderes Leben zu erleben. Das finde ich faszinierend. Wo ich auf der Bühne stand, war mir nie so wichtig. Ich wollte einfach Geschichten erzählen.
Weil Ihnen Ihr eigenes Leben zu wenig spektakulär vorkommt?
Ja, das kann sein! Auf der Bühne erlebt man die spektakulärsten Abenteuer. Diese Arbeit ist so unglaublich vielschichtig und bereichernd.
Welches ist das eindrücklichste Erlebnis Ihrer Karriere?
Das Stück «Altweiberfrühling», die Theaterversion der «Herbstzeitlosen», kam unglaublich gut an – das Publikum tobte! Es war, als ob die Schweiz die Fussballweltmeisterschaft gewonnen hätte. Vom Theatererlebnis her hat mich Maria Callas, die ich 1997 und 2010 gespielt habe, immer sehr bewegt. Ihre Leidenschaft und die verzweifelte Einsamkeit in ihren letzten Jahren haben mich tief berührt.
Hat Ihnen das Publikum auch schwierige Situationen bereitet?
Beim revueartigen Theaterstück namens «Kleiner Mann, was nun?» in Luzern Anfang der 80er-Jahre trat ein Schauspielkollege in einer Szene als Hitler auf. Wir sangen an dieser Stelle mit dem Hitler-Gruss «Heimat, deine Sterne». Da schwappte uns bei jeder Vorstellung vom Publikum her eine physisch spürbare Kältewelle entgegen. Pure Ablehnung! Das wollten die Schweizer damals einfach nicht sehen.
Wurden Sie nach den «Herbstzeitlosen» mit Rollenangeboten überhäuft?
Nein. Man hat mich danach in der Schweiz einfach besser gekannt. Ich gab mehr Interviews – aber Rollen regnete es nicht. Noch heute sprechen mich unterwegs Leute auf diesen Film an.
Ist Ihre berufliche Situation mit zunehmendem Alter schwieriger geworden?
In den Theater-Ensembles wird man mit 64 Jahren automatisch pensioniert. Deshalb bekomme ich nun einfach ab und zu ein Angebot eines Theaters, das eine ältere Person braucht. Ich denke, dass die Situation unter den jungen Schauspielern momentan fast schwieriger ist. Bei ihnen gibt es ein grosses Überangebot. In meinem Alter hingegen gibt es nicht mehr so viele aktive Schauspieler. Deshalb hatte ich seit meiner Pensionierung immer zu tun. Ich hoffe, es geht so weiter.
Welche Rolle möchten Sie unbedingt noch spielen, bevor Sie sich zur Ruhe setzen?
Ich habe oft erlebt, dass Rollen, die mir zuvor gar nicht so erstrebenswert vorkamen, später zu einem grossartigen Erlebnis wurden. Deshalb möchte ich mich auf nichts festlegen.
Heidi Maria Glössner
Die Schauspielerin wurde 1943 im süddeutschen Messkirch geboren und wuchs in Uzwil SG auf. Nach der Schauspielschule stand sie in der Schweiz, in Deutschland und Österreich auf Theaterbühnen.
Im Berner Stadttheater wurde sie zur Grande Dame des Ensembles. Seit einigen Jahren ist sie vermehrt in Schweizer Filmen wie «Die Herbstzeitlosen» oder «Das alte Haus» zu sehen.