Es ist einer jener Momente, ein Bruchteil von Sekunden, in denen man als Zuschauer den Atem anhält: Während einer Vorlesung stockt die Linguistikprofessorin Alice Howland mitten im Satz, eine Lücke, ein kurzer Leerraum, bis sie dann doch weitersprechen kann, ein Moment des Vergessens, das aber kein zufälliger Aussetzer ist: Der Anfang einer Krankheit, deren Verlauf stetig und unumkehrbar, irreversibel ist. Sie bedeutet das Vergessen dessen, was auf der Gegenwartsebene wahrgenommen wird, zuerst vereinzelt (etwas nicht mehr finden, kurz ohne Orientierung sein, etwa mitten im Joggen), dann öfter und länger, ein Sich-in-der-Gegenwart nicht-mehr finden, da nur Minuten des Gesehenen bleiben, später nur noch Sekunden. Die Folgen sind bekannt: Orientierungslosigkeit. Die richtige Tür im eigenen Haus nicht mehr finden (Alice muss auf die Toilette, weiss nicht, welche Tür), den eigenen Ehemann, die Kinder nicht mehr erkennen, jeden Tag etwas verlieren, einmal auch die Sprache. Ein langer, ein schmerzlicher Prozess, aber, in gewissen Erscheinungen, manchmal auch heiter: Alice liest Moby Dick und hat den Eindruck, immer die gleiche Seite zu lesen. Sie will in der Küche einen Löffel holen und bringt Orangensaft.
Soll, darf ein solches Vergessen, unter dem manche leiden, sei es als gelegentliches Phänomen oder als Krankheit, dargestellt und erzählt werden, sogar vergnüglich heiter? Selbst in dem, was peinlich erscheint. Mit der Gefahr, dass andere sich darüber lustig machen?
Da war sie wieder die Frage: Was soll erzählt, was verschwiegen werden?
Edda stellte sie sich oft, seit sie wahrgenommen hatte, dass Jans Aussetzer, seine Zögerlichkeiten, sein Unschlüssig- und Ratlossein mehr waren als die alltäglichen Vergesslichkeiten, die mit zunehmendem Alter sich ergeben. Bei Jan war es mehr, aber für Edda nicht tragisch, wenn er seinen Schlüsselbund verlegte oder den Regenmantel mit dem Bademantel verwechselte. Und wenn er den Kehrichtsack in den Teich des Nachbars beförderte, statt ihn an die Strasse zu stellen, führte das zu nachbarschaftlicher Empörung, war aber keine Staatsaffäre. Edda erzählte davon und schrieb darüber. Heiter. Und zum Lachen. Und sie blieb ruhig, schon fast gelassen, auch dann noch, als er Orangensaft statt Milch in den Kaffee goss; und wenn er sich verkehrtherum ins Bett legte, leitete sie ihn mit Zärtlichkeiten zum Drehen an. Als er aber beim Schreddern den Handschutz bei laufendem Motor entfernte und zwei Fingerkuppen blutig zerfetzt wurden, war der Gang zum Arzt unausweichlich und die Diagnose unmissverständlich. Sie kannte den Namen der Krankheit und das Unumkehrbare des Verlaufs. Abschiede jeden Tag. Bei Jan schritt der Prozess rasch voran: er vergass gleich wieder, was er sah, wo er war, bald auch, wer sie, Edda, war. Seine Umarmungen blieben, seine Zärtlichkeiten auch. Doch wem galten sie? Mit dem Vergessen der Gegenwartseindrücke kehrte er zurück in die Erinnerung, in die Hallen seines Gedächtnisses, nannte Namen aus ferner Vergangenheit, Schulfreunde, Jugendlieben, zärtlich einen Namen: Virginie, oder einfach Ini. Den Namen sprach er jetzt öfter aus, zärtlich, sein Gesicht strahlte, seine Augen wurden gross. Edda las darin Freude, Glück, Liebesglück. Mit Ini. Edda verscheuchte den Schmerz. Jan war zurückgekehrt in die glücklichen Tage seiner Jugendliebe, die in der Tiefe seines Gedächtnisses rein und unberührt geblieben war und wiederkehrte. Es war ein so unverhofftes Wiedersehen wie das jener Braut, die ihren im Bergwerk verunglückten und vermissten Verlobten nach 50 Jahren, in Schutt und Vitriol rein erhalten, wiedersah, so wie sie ihn damals gekannt und geliebt hatte. «Er ist mein Verlobter, um den ich 50 Jahre getrauert hatte und den mich Gott noch einmal sehen lässt vor meinem Ende.» So erzählt es Johann Peter Hebel. So war Jan wieder bei seiner Ini; ihren Namen auf seinen Lippen starb er, ohne Qual, das loslassend, was nicht mehr zählte, dem nah, was in ihm unberührt geblieben war. Etwas vom Glanz in seinen Augen legte sich auch über Eddas Schmerz: als etwas Tröstliches.
Ich habe Edda und Jan damals einige Monate begleitet, ihnen zugesehen, dem langsamen Vergessen von Jan, dem Schmerz des Abschiednehmens von Edda, den Zärtlichkeiten des Umgangs miteinander, eine gelassene Heiterkeit mitunter auch im Kranksein: wenn Jan seine Brille suchte, gestikulierte und nicht realisierte, dass er sie schon angelegt hatte, wenn auch er die Toilette suchte, aber auf die Uhr schaute, und nur mit Eddas Hilfe die Tür fand, und nur mit einem Leitseil sein Bett, dabei aber tänzerische Figuren zog. Oder gar, in der späten Phase, wenn Jan mit der Zahnbürste sein Haar bürstete, blieb Edda geduldig. Edda und Jan, eine Liebe, auch im Vergessen.
Ich habe an die beiden wieder denken müssen im Film «Still Alice», nicht wegen der Krankheit, die hier in Alices Augen und Gesten glaubwürdig intensiv und bewegend dargestellt wird (dank der grossen Kunst von Julianne Moore), sondern in dem, was rund um die Kranke und die Krankheit sich ereignet. Eine Familie, so zerstritten wie viele, die in der Krankheit neuen Umgang miteinander findet, Empathie und Menschlichkeit; die einst gegen die Mutter rebellierende Tochter Lydia, die nun mit emotionaler Eindringlichkeit zur Kranken, also vom Unglück affizierten Mutter Alice, eine neue Nähe findet, versöhnlich, zärtlich.
In solcher Eindringlichkeit, die den Zuschauer mitnimmt, zeigt Kunst, was sie auf der Höhe ihrer Möglichkeiten zu leisten vermag, nämlich das, was Calvino als ihr sechstes Gebot bezeichnet: dass das Schwere des Wirklichen (ohne es zu banalisieren) für Augenblicke leicht zu werden vermag. Denn Kunst, sei es ein Film oder ein Buch, eine Musik oder ein Bild, kann uns auch da packen, unterhalten (im doppelten Sinne des Wortes), versöhnlich stimmen, unser fröstelndes Leben wärmen, wo sie vom Schweren spricht und erzählt: von Alice und Lydia, von Edda und Jan, von der Braut, die ihren toten Verlobten wiederfindet. Sehend, lesend oder hörend übersetzen wir Gegenwärtiges in Zeichen, gewinnen wir aus, durch Kunst gesetzte Zeichen, also Bildern, Sätzen oder Klängen, Gegenwart für unser eigenes oft taumelndes Leben, mit oder ohne Vergessen.
Das kann tröstlich sein.
Urs Faes
Urs Faes lebt als freier Schriftsteller in Zürich und San Feliciano (Umbrien). Von 2007 bis 2009 war er auf der radioonkologischen Abteilung des Kantonsspitals in Aarau als Beobachter und Berater tätig. Er schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen. Sein letztes Werk «Sommer in Brandenburg» erschien 2014 im Suhrkamp Verlag. Faes erhielt verschiedene Auszeichnungen, unter anderen den Schillerpreis der Schweiz.