Diese Bilder sind nicht mein Stil, sagt Hanna und schaut freundlich auf den Boden. Hoffentlich! Du hast ja deinen eigenen Stil. Was malst du denn?, frage ich.
Ich male eher wie van Gogh, sagt sie, und manchmal auch wie ein anderer Maler, Schakal oder so. Bei ihm schweben die Menschen am Himmel, das gefällt mir. Mir gefallen aber auch die betenden Hände von Dürer. Meine Mutter hat sie einmal eins zu eins für mich gestickt. Die hingen über der Kommode in meinem Kinderzimmer.
Wir stehen an der Bushaltestelle, nicht weit von der kleinen Galerie, aus der wir gerade kommen, und vermeiden es, einander anzuschauen. Hanna hat sich umgedreht und starrt die Böschung an. Dort wächst ein grosses Thymiankissen. Unser beider Erinnerungen hüpfen wie Flöhe darauf herum.
Die anderen schwatzen in kleinen Gruppen, tauschen Eindrücke aus über die Ausstellung oder fragen neugierig nach dem Wie, Wo, Wann und Warum.
Wir haben uns seit 40 Jahren nicht gesehen.
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite hält unterdessen ein roter Wagen, ein Mann steigt aus und macht sich am Kofferraum seines Autos zu schaffen. Seinen Hund hat er an einem Hydranten festgebunden. Das Tier steht unbeweglich da, mitten auf dem Trottoir, auf zündholzdünnen Beinchen, die seinen dicken Körper kaum halten können. Er ist alt wie sein Besitzer. Jedes Mal, wenn jemand an ihm vorbeiläuft, hebt er ein wenig den Kopf, wackelt ein bisschen mit dem Kopf und schaut sehr beleidigt in die Welt.
Aber wahrscheinlich ist das nur eine Projektion von mir. Ich weiss nicht, ob Hunde beleidigt sein können. Vielleicht ist er nur alt und überfordert, wie ich im Moment, denn ich weiss nicht, worüber ich mit Hanna reden soll.
Wahrscheinlich schaue ich jetzt genauso beleidigt in die Welt wie der Hund auf dem gegenüberliegenden Trottoir, denn Hanna macht eine Handbewegung, als wolle sie meine Gedanken verscheuchen, und lächelt mich an. Ich lächle zurück.
Das konnte sie immer gut. Andere für sich einnehmen. Andere manipulieren.
Wie die im Wald hausenden Raubtiere suchte sie die Nähe der Opfer, um deren schwächste Stelle auszuspionieren. Sobald sie wusste, wo sich die Achillesferse befand, stiess sie gnadenlos zu und holte sich, was sie wollte.
Bis zu diesem Augenblick, ihrem Triumph, war sie von einer Langmut, von einer nie versiegenden Freundlichkeit, dass man gerne bereit war, ihre Nähe als Sympathie zu interpretieren.
Damals wusste ich nichts von ihr. Ich wusste nicht, dass das, was mir als Grosszügigkeit und Liebenswürdigkeit entgegenkam, eine Falle war. Und ich bin hineingetappt, wie der Bär, wenn er Honig riecht.
Hanna fasst jetzt ganz sanft meinen Ellbogen und schiebt mich in Richtung Bus, der gerade ankommt. Sie steigt hinter mir ein. Das tat sie schon immer, das gab ihr Gelegenheit, sich später, wenn man es am wenigsten erwartete, in besorgtem Ton über meine Figur, meine Haltung oder meine Bewegungen zu äussern.
Jetzt sitzt sie neben mir im Bus, ihr Oberschenkel berührt leicht den meinen, das ist mir unangenehm, und ich versuche möglichst unauffällig, ein bisschen Distanz zwischen uns zu schaffen. Da schaut sie mich ganz lieb an, drückt ihren Oberschenkel noch ein klein wenig dichter gegen meinen und lächelt mich strahlend an. Ich bin überzeugt, sie glaubt, sie hat mich wieder in der Tasche. Aber sie täuscht sich. Nie wieder wird es ihr gelingen. Ich habe sie durchschaut.
Zugegeben hat sie es nie, aber ich weiss, dass sie mir das damals eingebrockt hat. Es konnte nur sie gewesen sein. Sie sass rechts vom kleinen Gang, wo der Lehrer durch die Klasse lief. Wenn sie etwas brauchte, musste ich nur die rechte Hand ausstrecken und ihr zum Beispiel den Zettel mit der Lösung auf den Rock legen.
Ich war zum Helfen erzogen worden. Jeder, der meine Hilfe wollte, bekam sie, hatte das Recht, sie zu bekommen. Das hatte Hanna sofort erkannt und sich in meine Nähe gesetzt. Sie hatte die Eigenschaften eines Spürhundes, wenn es darum ging, von ihren Mitmenschen etwas für sich herauszuholen.
Der Lehrer fand das rote Taschenmesser in der Metallschachtel mit meinen Neocolor-Stiften unter meiner Bank. Ich wurde zu fünf Sonntagen Arrest verdonnert, aber das war für mich keine Strafe. Stundenlang sass ich allein im Schulzimmer, meine Gedanken konnten sich ungehindert ausbreiten und den Raum bevölkern. Die Ruhe des gegenüber liegenden Waldes drang durch die geschlossenen Fenster in mich hinein. Es war wie träumen in der Nacht, aber mit offenen Augen.
Die Strafaufgaben waren schnell erledigt, der Rest der Zeit gehörte nur mir. Niemand störte mich, niemand hielt mich von meinem Leben ab.
Das Bittere kam danach: Ich war jetzt eine Diebin, schlimmer wäre einzig gewesen, wenn ich jemanden getötet hätte.
Für Hanna war es eine Selbstverständlichkeit, dass ich die Schuld auf mich nahm und auch später auf mir sitzen liess. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, und ein Jahr später ist sie mit ihren Eltern umgezogen.
Ich schaue sie von der Seite an: Sie lächelt. Sie ist jetzt 70, wie wir alle, die wir noch übrig geblieben sind und jetzt in diesem Bus sitzen, um zurück an den Bahnhof zu fahren. Dort werden wir uns verabschieden und jahrelang nicht wiedersehen.
Hanna lächelt mich immer noch an. Sie geht an Stöcken, sie ist spindeldürr, sie ist hässlich, und sie ist immer noch dumm. Was kümmert sie mich? Was kümmern mich diese alten Geschichten?
Am Bahnhof angekommen, stösst sie mich leicht mit dem Ellbogen in die Seite.
Weisst du noch …?, sagt sie und grinst.
Ich habe es nicht vergessen, sage ich, ohne ihren Blick zu erwidern.
Sie steht jetzt direkt vor mir, fasst ihre Stöcke mit der linken Hand und hält sich mit der anderen am Türgriff fest.
Ich lasse ihre schwere Tasche fallen, die sie mir in die Hand gedrückt hat, ich stolpere und stosse mit ihr zusammen. Hanna verliert das Gleichgewicht, fällt kopfvoran aus dem Bus und landet auf dem Asphalt.
Die Coca-Cola-Flasche ist aus ihrer Manteltasche gefallen, der Verschluss hat sich geöffnet, und die braune Brühe färbt ihre helle, beigefarbene Hose braun. Die Farbe kriecht an ihrem rechten Bein hinauf bis zur Hüfte.
Später habe ich erfahren, dass sie den Oberschenkel, den sie im Bus an mich drückte, mehrmals gebrochen hatte.
In einem gewissen Alter sind Knochen brüchig und wachsen nicht mehr so leicht wieder zusammen.
Leta Semadeni
Die 70-jährige Engadinerin schreibt deutsch und rätoromanisch. Sie arbeitete als Sprachlehrerin in Zürich und Zuoz, heute ist sie als Schriftstellerin tätig. Vor kurzem ist ihr Roman «Tamangur» im Rotpunktverlag erschienen. Leta Semadeni lebt in Lavin.