Die schönste Stelle von Gustav Mahlers 9. Sinfonie ist ihr Schluss. Nicht die sphärischen Schlusstakte, diese «Vision des Scheiterns», über die Mahler die Tempoangabe «ersterbend» schrieb. Nein, das Schönste passiert, wenn der Tod quasi vorbei ist, wenn es nach 80 Minuten endlich still wie in einem Cellobauch ist, wenn der Physiker kein akustisches Ereignis mehr feststellen kann. Zwei Minuten und zehn Sekunden lang dauerte diese Stille zum Beispiel vor drei Jahren im KKL, nachdem der Dirigent Claudio Abbado den letzten Ton mit einem Wimpernschlag abgewinkt hatte. Alsbald rann ihm eine Träne über die Wangen. Stille nach der Musik heisst Abschied, vorbei das Fest, aus der Traum.
Bereits in den zwei Tage spä-ter erschienenen Konzertkritiken waren die – im Verhältnis zur gigantischen Sinfonie – kurzen zwei Minuten und zehn Sekunden zu einer Ewigkeit geworden. Kein Wunder. Wann schon sitzen 1800 Menschen still in einem Saal? Sogenannte Schweigeminuten enden fast immer nach 20 Sekunden, da die Stille den Schweigern nicht zuzumuten ist.
Die Stille ist ein harter Brocken, selbst für Profis. Die DVD-Aufzeichnung des Mahler-Konzertes belegt, dass der Stille-Fanatiker Claudio Abbado nach zwei Minuten dieses Nichts nicht mehr aushielt, denn ewig darf die Stille nicht dauern. Er gab nach 130 Sekunden mit einer eigenartigen, zuckenden Körperbewegung das Kommando zum Stille-Abbruch, auch wenn er wusste, wie schrecklich das nun Anstehende sein würde – Bravorufe ungeübter Stimmen und schmerzendes Klatschen.
Kein Applaus
Der Aargauer Cembalo-Künstler Oskar Birchmeier bittet zur Verhinderung dieser «Störung» bisweilen sein treues Publikum, nach dem Konzert nicht zu applaudieren, sondern sich still zu erheben. Nach dem 1. Aufzug von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel «Parsifal» ist es an Traditionsbühnen noch heute nicht angezeigt, zu applaudieren, denn eine Aufführung war früher mehr Gottesdienst als Oper. Das moderne Regietheater hat diese einmalige Grossartigkeit zunichtegemacht. Wenn anstatt des Grals ein Bierhumpen auf der Bühne steht, kann man ungezwungen applaudieren – oder buhen.
Vor allem Komponisten, die es gerne laut haben, wissen nur zu gut, welch unheimlichen Eindruck die Stille macht. Giacomo Puccinis (1858–1924) knallige Operndramen sind am stärksten, wenn gar nichts zu hören ist, wie etwa in «Tosca»: Unheimlich ist das einen Sekundenbruchteil kurze Innehalten des ganzen Opernapparates, bevor die unendliche Melodie von «E lucevan le stelle» angestimmt wird – der Weltabschied des heldenhaften Cavaradossi vor seiner scheinbaren Hinrichtung.
Stille als Programm
Der Sext-Tonsprung, den Graf Almaviva in Mozarts «Le nozze di Figaro» singen darf, wenn er nach dem «tollsten Tag» seine Frau um Verzeihung bittet, ist etwas vom Schönsten, was in den letzten 400 Opernjahren komponiert wurde. Aber noch viel grossartiger ist die Stille vor diesem Ton. Das Nichts, bei dem sich jeder fragt: Wird es dieser Mann überhaupt wagen, «Perdono» zu sagen? Diese Sekunde der bangenden Stille ist der Höhepunkt von vier Stunden Opernglück.
Ein Klassikfestival im aargauischen Kaiserstuhl hat die Stille zum Programm gemacht. Es nennt sich «Festival der Stille», bezeichnenderweise an einem Ort, über den täglich Dutzende von Flugzeugen hinwegkrachen. Die Botschaft dahinter ist klar: Erst mit der Stille begreifen wir die Musik.
Der radikalste Stille war John Cage (1912–1992) mit seiner Komposition «4’33», ein Stück für eine beliebig grosse Besetzung, bei dem es gilt, 4:33 Minuten still zu sein.
Am Heiligen Abend können wir die Krönung der musikalischen Stille erahnen mit Franz Xaver Grubers «Stille Nacht, Heilige Nacht». Dieses 1818 im österreichischen Oberndorf komponierte Lied hat unser Stille-Denken tief beeinflusst. Das Lied lebt vom Glauben an die Stille. Jeder versucht, ob der süssen Worte von Joseph Mohr (1792–1848) beim Anstimmen im Pianissimo zu singen, auch wenn er keine Ahnung hat, wie das technisch zu bewerkstelligen ist. Am liebsten würde man singen, aber keinen Klang erzeugen, da er nie so schön sein kann wie der Gedanke daran.
Klingende Luft
Ausnahmen gibt es. Wer einmal Operndiva Leontyne Price (*1927) gehört hat, wie sie 1961 «Silent Night» sang, getragen von Herbert von Karajan und den Wiener Philharmonikern, wird das kaum vergessen. Sie hat das Singen in Gedanken fast zur Perfektion gebracht. Noch stiller machte es 1957 Elisabeth Schwarzkopf (1915–2006). Beide Sängerinnen zeigen, wie nahe diese Musik bei der Stille ist, und geben den Worten des italienischen Komponisten Ferruccio Busoni (1866–1924) recht, der einmal sagte: «Musik ist nur klingende Luft.»
DVD
G. Mahler
Sinfonie Nr. 9
Leitung: Claudio Abbado,
1 DVD
(Accentus 2004).
CDs
E. Schwarzkopf
The Christmas Album (EMI 2013).
Zurzeit nur online erhältlich.
L. Price
Silent Night (1961)
In: Christmas With Leontyne Price
(Decca 2004).