Zehn Tage vor Weihnachten stand in der Zürcher Tonhalle ein Kandidat für den Chefdirigentenposten auf dem Podium. Drei Tage vor der Bescherung folgte bereits der nächste, und in den ersten Wochen des neuen Jahres der dritte.
Doch der Reihe nach. Der erste Anwärter, Paavo Järvi (*1962), dirigierte eine sehr kraftvolle «Rheinische» von Robert Schumann und leitete Sergej Prokofjews Cellokonzert kühn konzentriert. Der 35-jährige Omer Meir Wellber, in der NZZ gleich als Wunder angekündet, hatte mit einem bunten Weihnachtsprogramm leichteres Spiel. Als der Israeli zur Zugabe Leonard Bernsteins Ouvertüre zu «Candide» anstimmte, hatte er die Herzen der Zürcher bereits erobert. Der 45-jährige François-Xavier Roth servierte am 18. Januar mit Arnold Schönbergs «Pelleas und Melisande» ganz andere Kost.
Diskussionen sind wichtig und erwünscht
Paavo Järvi kommt demnächst sogar ein zweites Mal: Am 24. Januar ist er mit seiner Kammerphilharmonie Bremen zu erleben. Diese Geschäftigkeit macht Sinn, die rundum aufgekommenen Diskussionen sind überaus wichtig. Nach dem Scheitern des heute 30-jährigen Lionel Bringuier braucht es ab 2018 einen grossen Chefdirigenten, ein Gesicht, das den Zürchern klarmacht: Eure Subventionen für diese Institution sind hervorragend investiertes Geld; ich mache Musik für euch alle!
Entschlossenheit ist gefragt
Das ist zuallererst auch ein Wettlauf gegen die Zeit, zumal man im Klassikgeschäft auf drei, vier Jahre vorausplant. Da die Musiker in der Diskussion um den neuen Chef eine starke Stimme haben, muss der Kandidat mindestens einmal mit dem Orchester gearbeitet haben, bevor man ihn wählt. Bisweilen braucht es dazu Entschlossenheit. Wie 2008 am Zürcher Opernhaus: Weil der damalige Operndirektor Alexander Pereira den umschwärmten Daniele Gatti 2009 zum Chefdirigenten machen wollte, musste man extrem kurzfristig ein Konzert ins Programm pressen: Gatti sah das Opernorchester erstmals bei der Generalprobe, wurde aber gleich nach der Aufführung gewählt. Nach einem schwierigen Start konnte er in nur drei Jahren das Orchester prägen.
Gerade dieses Beispiel zeigt, dass es für ein Zürcher Orchester möglich ist, einen weltweit begehrten Chefdirigenten zu engagieren. Kein Wunder, spielt die Bankenstadt doch in Ranglisten zur Lebensqualität stets ganz oben mit. Hier ist alles, was Dirigenten lieben: viel Geld, ein grosser Flughafen, Ruhe, gute Ärzte, ab 2020 ein renovierter Top-Konzertsaal und dazu ein Orchester. Aber erstaunlicherweise tut man sich in der Tonhalle seit 1975 schwer mit Dirigenten: Die Mehrheit blieb nicht lange, keiner war ein Dirigent, um den man sich anderswo riss.
Fragt sich nur, wer denn heute der ideale Mann für Zürich sein könnte: ein junger Wilder wie Krzysztof Urbanski (*1982), der im Februar 2016 in Zürich triumphiert hat? Eine Legende wie Mariss Jansons (*1943)? Der weltweit geschätzte Kapellmeister Franz Welser-Möst (*1960)? Oder einer der drei eingangs Erwähnten?
Zürich als Trumpf im Vertragspaket
Es fällt auf, dass Zürich sich nicht traut, von der Liste der Dirigenten, die man im Frühling 2016 als zukünftigen Chef der Berliner Philharmoniker in Erwägung zog, auch nur einen mit dem Tonhalle-Orchester in Bezug zu bringen. Gewiss sind Paris, Amsterdam, London oder München attraktiver als Zürich. Aber warum haben Top-Dirigenten immer wieder feste Engagements in weniger glänzenden und weniger wohlhabenden Städten als Zürich?
Für Städte wie Dresden oder Leipzig gehören die Dirigenten zum Standortmarketing und Touristenprogramm. Warum also soll Zürich, dessen Oper europaweit ein Magnet ist, nicht auch mit seinem Tonhalle-Orchester-Chefdirigenten international auftrumpfen? Selbst wenn es so wäre, dass die Geschichte und Potenz einzelner deutscher Klangkörper allfällige Top-Kandidaten mehr überzeugen als das Tonhalle-Orchester, müsste doch das Gesamtpaket «Zürich» ein Trumpf im Vertragspoker sein.
Ein Orchester, das alles kann
Beim Tonhalle-Orchester haben es dirigierende Blender oder charismatische Optimisten schwer. Diese Musiker akzeptieren keinen Durchschnitt. Man strahlt ein gesundes Selbstvertrauen aus. Wer die Tonhalle-Musiker in den vergangenen 30 Jahren mit Dirigenten wie Georg Solti, Mariss Jansons oder Esa-Pekka Salonen erlebte, hörte ein Orchester, das alles kann. Einem solchen Orchester wäre ein Top-Dirigent zu gönnen.
CD´s
Richard Strauss
Ein Heldenleben / Don Juan
(RCA 2017).
Ludwig van Beethoven
The 9 Sinfonies
(RCA 2016).
Carl Nielsen
The Complete
Sinfonies 1–6
(RCA 2015).
Konzert
Di, 24.1., 19.30
Tonhalle Zürich
Paavo Järvi dirigiert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen