E in lauer Dienstag Ende September, die nahe Kirchenglocke schlägt sechs Mal: Feierabend. Steiner, Wortarbeiter im Akkord, schlüpft in seine Jacke, verlässt Schreibtisch und Brützimmer. Doch der Gang zu Fuss lindert den Sturm im Kopf nicht. Noch immer denkt er an die Geschichte, über der er den ganzen Tag gesessen hat, ihren Grundkonflikt, die Metaphorik und die dramaturgischen Schlüsselstellen – und bemerkt dabei nicht, welchen Weg seine Füsse einschlagen. Mit einem Mal bleiben sie stehen, Steiner taucht aus seiner Benebelung auf und blickt hoch. «Heute Abendrennen», verspricht eine Tafel knapp. «Hm», denkt Steiner, «vielleicht hilfts», und stellt sich an der Kasse an.
Programmheft in der einen, kühles Bier in der anderen Hand, steigt er eine Treppe hoch und blickt schliesslich in ein riesiges Ei mit grünem Graskranz zwischen Schale und Dotter: Die Offene Rennbahn Oerlikon. Seit vielen Jahren ist das Betonrund die graue Maus unter den Zürcher Sportstätten. Ein Ort ohne Hintergedanken, ohne fiktionalen Grundkonflikt und metaphorischen Doppelboden, und fern jeglichen Kulturgeschwafels. Ein Schwarm sehniger Männer dreht pedalend seine Runden durchs Oval. Genau das, was ich jetzt brauche, denkt Steiner, setzt sich hin und hebt die Bierflasche an den Mund. In diesem Moment schiessen zwei der Fahrer an die Spitze, der Lautsprecher erklärt: Angriff Jansen und Marvulli, doch was macht das Feld? Es wartet ab, lässt sie ziehen …
Steiner lächelt zufrieden und denkt: Schön, diese Kreisbewegung. Wie Meditation. Und das Bier ist auch nicht schlecht. Als er die Flasche erneut an den Mund hebt, ertönt hinter ihm eine Stimme: «Ein Irrsinn, nicht?» Steiner dreht sich um, ein verschmitztes Hutzelgesicht blickt ihm über die Schultern. Schon möglich, denkt Steiner und dreht sich zurück.
«Was ist ein Rundengewinn?», fährt das Hutzelmännchen fort. «Wenn er sich anbahnt, ist er etwas ganz Grosses, wenn er fertig ist, ist er ein Nichts. Der Fahrer ist da, wo er vorher schon war: Im Feld. Ein einziger Irrsinn.» Steiner nickt. Spass machts trotzdem, denkt er.
Das Hutzelmännchen rückt näher heran, Steiner glaubt, aus seinen Ausdünstungen eine Note von Rösslistumpen herauszuriechen. Das Männchen sagt: «Kennen Sie Kisch?»
«Kirsch? Den aus dem Zugerland?»
«Blödsinn. Kisch, der berühmte Reporter. Nachdem er ein Bahnrennen besucht hatte, schrieb er: ‹So bleiben alle auf demselben Platz, während sie vorwärtshasten, während sie in rasanter Geschwindigkeit Strecken zurücklegen, die ebenso lang sind wie die Diagonalen Europas.› Wahnsinn, nicht?»
Steiner dreht sich um und schaut sich das Hutzelmännchen genauer an. «Die Rennbahn ist eine Metapher, verstehen Sie?», sagt es. Steiner seufzt.
Rundengewinn für Jansen und Marvulli.
Haben Sie das gesehen, meine Herren? Brillant!
Zwei der Fahrer berühren sich und entgehen knapp einem Sturz. Das Männchen jauchzt auf. «Sagenhaft! Da kommt einem sofort Mark Twain in den Sinn», krächzt es. «‹Das grosse Rad muss genau in die Richtung gedreht werden, in die man fällt›, sagt er und erklärt damit das Paradox des Velofahrens …» Steiner rollt die Augen. Ich wollte doch nur mein Oberstübchen auslüften, denkt er. «… was einen an Heinrich von Kleist denken lässt, einer der grossen Exegeten der condition humaine …»
«Ich hol mir mal eine Bratwurst», sagt Steiner und erhebt sich.
«Später», sagt das Männchen und zieht Steiner am Hosenbund zurück, «schauen Sie sich lieber mal den Marguet an. Man hält ihn für eine grosse Kämpfernatur, aber wenn Sie genau hinschauen – passen Sie auf, jetzt kommt er wieder – haben Sie gesehen? Dieser Gesichtsausdruck, das ist kein Kämpferwille, das ist ein Ärger darüber, dass er nicht anders kann. Als ob sein Unterbau – also das Velo – seinen Oberbau – also Marguet – antreiben würde. Das Velo hat ihn im Griff. Erinnert mich an Flann O’Brien, der in seinem Roman ‹Der dritte Polizist› die Theorie aufstellt, dass Leute, die viel Velo fahren, sich allmählich mit ihrem Drahtesel vermischen …»
«Von mir aus, aber ich möchte nur schnell eine Wurst …»
«… was einem wiederum Anquetil ins Gedächtnis ruft, den grossen Anquetil, der behauptete, dass der Mensch aus zwei Teilen bestehe, einem Menschen und einem Fahrrad. Was für ein Sinnbild!»
Wahnsinnig, was für ein Tempo unsere Fahrer anschlagen. Eine Flucht ist so praktisch unmöglich …
Die habens schön, denkt Steiner. Dürfen einfach nur im Kreis herumfahren, ohne nachzudenken.
«Alfred Polgar kennen Sie bestimmt!»
Steiner dreht sich um und blickt das Hutzelmännchen herausfordernd an. «Sicher», sagt er, «was glauben Sie denn?»
«Dann kennen Sie ja auch sein wunderbares Feuilletonstückchen, das er über ein Sechstagerennen geschrieben hat und wo es heisst: ‹Was geht vor in der Seele des unseligen Mannes, der, Planet geworden, eine Ewigkeit von sechs Tagen und sechs Nächten lang, immer wieder und wieder die vorgeschriebene gleiche Reise rundum tut?› Das ganze Drama des Menschen ist darin verpackt! Und wir können daraus nur eins schliessen, junger Mann: Der Mensch ist ein Glünggi! Hihi.»
Steiner schaut in das Oval hinunter. Wahr ists, denkt er. An diesem Ort treffen sich Drama und Epik. Was ist schon das Schauspielhaus dagegen, was all die Bücher …
Neuer Angriff, diesmal Aeschbach, und zwar ganz alleine. Schauen Sie sich das an. Eine Wucht, der Mann …
Steiner nimmt einen grossen Schluck Bier. Der Mensch, denkt er, der Mensch ist ein Glünggi.
Jens Steiner
Jens Steiner wurde als Sohn eines Schweizer Vaters und einer dänischen Mutter 1975 in Zürich geboren. Er wuchs erst östlich, dann westlich der Albiskette auf, studierte in Zürich und Genf Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Nach dem Studium arbeitete er als Lehrer und Verlagslektor. Heute schreibt er Bücher – und lebt nicht in Berlin. Am 27.Oktober erhielt Jens Steiner den mit 30 000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis für seinen zweiten Roman «Carambole».