Erst machte er sich eineinhalb Jahre rar, und nun hat der Maestro Erklärungsbedarf. Die erste Frage im Zürcher Restaurant «Belcanto» noch nicht gestellt, die Zürichsee-Felchen kaum bestellt, erklärt Daniele Gatti sogleich, was er in dieser Zeit in Zürich als Chefdirigent geleistet hat. Eine lange Aufzählung ist es nicht. Diesen Februar und März weilt er aber fast dauernd in der Stadt, hat musikalisch viel vor – und einen Wunsch: Der 49-jährige Mailänder will endlich einmal ein Fondue essen. Knapp eineinhalb Jahre bleiben ihm noch, dann ist seine Zeit als Zürcher Chefdirigent schon wieder vorbei.
Ein lernfähiger Dirigent
Gatti stört die Kürze des Zürcher Engagements nicht. Für ihn zählen die musikalischen Projekte, die im Juni 2012 in Paul Hindemiths «Mathis der Maler» kulminieren. Im Februar dirigierte er ein Beethoven-Konzert und «Fidelio», jetzt folgen Gustav Mahlers 9. Sinfonie und die Neuproduktion von Giuseppe Verdis «Falstaff». Gattis zweiter Zürcher Frühling? Die NZZ titelte nach dem ersten Konzert «Ohne Raffinement».
Wie auch immer. Gatti ist in den letzten zehn Jahren zu einem der weltweit führenden Dirigenten aufgestiegen, steht in Mailand, Salzburg, München, London und Paris am Pult. Nicht zuletzt die Wiener Philharmoniker lieben den Mailänder. Er ist ein Dirigent, der einem Orchester zuhören und von ihm etwas annehmen kann. «Wenn ein Orchester sensibel, intelligent und wach ist, dann genügt es, zwei, drei fundamentale Dinge zu sagen», sagt er. «Ein Orchester offeriert einen gewissen Klang, damit gilt es zu arbeiten.»
Obwohl Italiener, darf Gatti in Bayreuth oder Salzburg Deutsches Repertoire dirigieren. Stolz nennt er ein Beispiel: «Alexander Pereira fragte: ‹Daniele, willst du in Salzburg 2013 lieber Verdi oder Wagner dirigieren?›» Gatti wählte «Die Meistersinger von Nürnberg» und erklärt warum: «Dieses Hauptwerk wurde nur einmal in der Geschichte der Salzburger Festspiele aufgeführt, nämlich 1936 unter Toscanini!»
Kultur und Spektakel
Verdi und dessen Ausnahmewerk «Falstaff» dirigiert er nun in Zürich. «Diese Partitur ist quasi eine Geheimschrift, für deren Entschlüsselung ein einziges Leben kaum genügt. Verdi stellt dem Komödiantischen eine tiefe Nostalgie gegenüber.»
Dank «Falstaff»-Exkurs ist das Gespräch in Gang gekommen, der zurückhaltende Gatti ist aufgetaut. Um neuen Worten Platz zu machen, schaufelt er den Hauptgang geradezu weg. Als die Rede auf Italien kommen soll, auf das Kulturland, wo berühmte Theater unter Spardruck stehen, gewisse gar schliessen müssen, erlischt Gattis Feuer. Er winkt ab: «Das ist kein guter Moment, um darüber zu sprechen.»
Gatti will lieber über den Unterschied zwischen Kultur und Spektakel reden. «Um Kultur ginge es, wenn das Publikum nach einer Oper still nach Hause gehen würde», gibt er an. Sobald aber dem Publikum die Möglichkeit gegeben sei, seine Emotionen zu äussern, werde der Anlass Spektakel. «Reden wir über die Beethoven-Aufführungspraxis, ist es Kultur. Gehe ich auf die Bühne, wird es Spektakel.» Nun gelte es, das Publikum zu packen. Aber irgendeiner von 1500 Menschen störe sich am Tenor und buhe. Angriffig fragt Gatti: «Buhen Sie in einem Museum einen Picasso aus?»
Von dieser Abschweifung kommt Gatti indirekt auf seine eigene Situation zu sprechen. Er wird nämlich seit zwei Jahren auch immer wieder mal ausgebuht – in Mailand, in Salzburg und im Dezember auch in München. Einwürfe dazu hört er nicht gerne, viel lieber nimmt
er die Medien in die Pflicht: «Wenn Journalisten eine schlechte Nachricht anstelle einer guten verbreiten können, wählen sie die schlechte.»
Nicht allen willkommen
Und dann, plötzlich wieder gelöst, sagt er: «Schreiben Sie, dass ich zufrieden bin, wenn sich ein Saal streitet. Aber es gibt einen Unterschied, ob es um eine musikalische Idee geht oder um eine politische Demonstration wie damals in Mailand.» Jene Buhrufe schmerzten wohl besonders. Vor drei Jahren war der Mailänder im Gespräch, die Scala zu übernehmen. Die Publikumsproteste zeigten aber deutlich, dass er nicht bei allen willkommen war.
Gatti kann warten. Im November feiert er seinen 50. Geburtstag. Sein Wunsch ist es erst mal, etwas weniger zu dirigieren, damit er Musse zum Komponieren findet und öfter ans Meer und in die Berge fahren kann. Und vielleicht bleibt ja sogar Zeit für einen Besuch in einem Zürcher Fondue-Stübli.
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Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 4, 5 und 6
(Harmonia Mundi 2010).
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Verdi
Simon Boccanegra 2002 in Wien (TDK 2007).
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