Wenn am Samstagmittag ein Skirennen live am Fernseher übertragen wurde, versammelte sich die ganze Familie zum Mittagessen im Wohnzimmer. Es waren ausnahmslos die einzigen Anlässe, zu welchen die elterliche Instanz uns erlaubte, vor dem Fernseher zu essen. Mit der höchstmöglichen Konzentration bei aufkommender Nervosität balancierten wir den Suppenteller von der Küche ins Wohnzimmer, damit nichts über den Tellerrand auf den Teppich schwappte. Der Moment für dieses Unterfangen war vorsichtig zu wählen. Stand Vreni Schneider im Starthäuschen bereit, galt absolute Stille im Raum, und niemand durfte sich mehr bewegen, sonst hätten wir die Skirennfahrerin womöglich noch aus dem Konzept gebracht. Dann ging es los: Unter den Kommentaren von Hans Jucker feuerten wir Vreni Schneider lautstark an, bewegten unsere Oberkörper mit vorgestreckten Armen und fest gedrückten Daumen zackig hin und her, als würden wir selber die Slalomstangen passieren und rasteten kollektiv komplett aus, wenn sie die Ziellinie mit Bestzeit überquerte. Wir tobten und tanzten und tollten uns auf dem Wohnzimmerboden. Es war ein Fest der Emotionen, das in mir den spontanen Wunsch weckte, Skirennfahrerin zu werden.
Als ich gegenüber den Eltern diesen Wunsch äusserte, winkten sie belustigt ab, dass dieser Zug längst abgefahren sei, da hätte ich schon als Dreijährige an Skirennen teilnehmen müssen, und überhaupt seien aus dem Tafeljura noch keine Skiprofis hervorgegangen. Meine Murmeln sackten durch den Hosentaschenboden, und ich stellte in meiner achtjährigen Lebenserfahrung zum ersten Mal fest, dass das Leben aus Zügen besteht, und dass man die erwischen oder verpassen kann. Ich erkannte bald, dass dieser Zugverkehr einem dichten Fahrplan folgte. Mit zehn Jahren war es zu spät für eine Tenniskarriere, mit zwölf zu spät für Spitzensportlerin – als würde das Leben nur aus Spitzen bestehen – und so weiter. Und ich beobachtete, dass auch Mutter die Züge verpasste. Als der Gedanke sie streifte, mit 40 Jahren eine neue Ausbildung anzufangen, war dieser Zug längst abgefahren. Es war zu spät. Aus. Vorbei. Vater hingegen schien einen guten Draht zum Zugführer zu haben, als er mit 50 einen beruflichen Richtungswechsel einschlug und den Anschluss offenbar locker erwischte.
Aber, und das war die gute Nachricht, es gab auch noch ganz viele Züge, die ich erwischen konnte – und auch erwischen sollte. Allerdings müsste ich pressieren, sonst sei es dann eben wieder zu spät. Ich müsste also gut schauen und pressieren. Es waren nicht nur die Eltern, die den Fahrplan fix im Auge behielten, auch die Lehrpersonen, die Nachbarschaft, das ganze Dorf schaute, dass ich pressierte und die Züge erwischte. Eine rührende Geste, stellte man sich vor, dass sie es gut meinten.
In diesem Spannungsfeld zwischen der Ermahnung, dass dieser Zug bald abfahren würde, und der Feststellung, dem Vorwurf, der Schadenfreude, dass jener Zug bereits ohne mich abgefahren sei, wird vor allem Stress erzeugt. Und ich frage: Wozu? Wissen denn die Leute, wohin mich ein Zug bringt und vor allem, ob es mir dort überhaupt gefällt? Oder ist das gar nicht die Frage, dort zu verweilen, wo es gefällt? Ist es die Sorge darüber, dass ich sonst am Bahnhof stehen bleibe? Und wenn schon, ich meine: Wieso nicht? Das stelle ich mir sehr unterhaltsam vor, den Leuten zuzuschauen, wie sie sich mit dem schweren Gepäck auf den Treppenstufen abmühen, sich durch die Unterführungen drängen und rennen, um die Züge zu erwischen, die sie irgendwo hinbringen. Ob es Leute gibt, die kaum Züge verpassen? Gewiss. Und wo sind sie heute? Am Zugfahren. Schön, wenn man gerne reist. So verreist doch und gute Fahrt!
Nicht jeden Zug erwischen zu müssen, hat auch etwas Befreiendes. Die unermüdliche Ermahnung an die ablaufende Zeit und daran, Gelegenheiten am Schopf packen zu müssen, um vorwärts zu kommen – wogenauhin führt vorwärts? – bleibt ein Störgeräusch und begleitet uns ein Leben lang. Das empfinde ich als eine Zumutung. Als gäbe es vor dem Sterben für alle diesen einen Katalog von Dingen, die erledigt und erwischt werden müssten. Und noch absurder: Als gäbe es für alle nur diesen einen Fahrplan. Wann der Tod einfährt und ob es dann ein Schnellzug ist oder ein Bummler, das wissen wir sowieso nicht. Wir wissen nur, dass er selten Verspätung hat und dass diesen Anschluss niemand verpassen wird, auch Bahnhofssässige nicht, keine Angst.
Und so weile ich also am Bahnhof, stelle die Zugdurchsagen auf Durchzug und schreibe in meinen Fahrplan, dass es nicht zu spät ist, mit 40 eine Zweit- oder Drittausbildung anzufangen, dass es nicht zu spät ist, mit 50 eine Familie zu gründen und auch nicht zu spät ist, «Familie» neu zu definieren, dass es nicht zu spät ist, mit 60 eine neue Sprache zu lernen, dass es nicht zu spät ist, mit 70 ein Tinder-Profil einzurichten, dass es nicht zu spät ist, sich mit 80 ein neues Fahrrad zu kaufen und dass es nicht zu spät ist, mit 90 plus auf Reisen zu gehen. Und was die Abfahrt des Panoramazugs betrifft: dass es nie zu spät ist, von einer Karriere als Skirennfahrerin zu träumen.
Daniela Dill
Daniela Dill wurde 1982 in Liestal BL geboren. Sie hat Französische und Deutsche Literaturwissenschaften in Basel studiert und stand schon während des Studiums auf Poetry-Slam-Bühnen. Seit 2011 ist sie als Spoken-Word-Künstlerin, Texterin und Veranstalterin tätig und gibt Poetry-Slam- Workshops an Schulen. Seit 2019 ist sie Co-Leiterin des Wortstellwerks im Jungen Schreibhaus Basel. Ihre Texte wurden in Anthologien, Magazinen, Radiosendungen und auf CD veröffentlicht. 2020 ist ihr Band «Durzueständ » (Der gesunde Menschenversand) erschienen. Daniela Dill lebt in Basel.