Er spürte die Füsse nicht mehr richtig. Noch waren die Zehen nicht gequetscht, noch brach ihm der sich langsam verfestigende Zement nicht die Knochen. Aber das Gefühl von Taubheit, die immer stockendere Blutzirkulation liessen ihn in Panik geraten. Hätte er doch nur auf Jennifer gehört! Wäre er doch in Kanada geblieben! Was für eine hirnrissige Idee, nach New York zurückzukehren!
Schweissgebadet blinzelte er in das urinfarbene Licht der einzigen Glühbirne in dem trostlosen Gewölbe. Die Glatzköpfe hatten ihn allein gelassen – von oben hörte er erst noch Scharren und Flüstern, schliesslich nichts weiter als Stille. Vermutlich waren sie verschwunden. In der Nähe ertönte eine Polizeisirene, sodass ein Funken Hoffnung in ihm aufglomm, der gleich wieder erlosch, als sich das Heulen in der Ferne verlor. Alle paar Sekunden traf ihn ein scharfer Luftzug im Nacken. Mit den Füssen im Block hatte er keine Chance, zu entkommen. Seine Peiniger mussten nur warten, bis der Zement hart war und sie ihn von der Brooklyn Bridge werfen konnten.
Was ihn schon jetzt fast umbrachte, waren die miefenden Socken im Mund. Die letzten Momente seines Lebens an diesen Socken herumzuwürgen, war schlimmer als die Hölle. Was hätte er dafür gegeben, sich singend zu beruhigen, summend ein wenig Ruhe zu gewinnen und der Panik mit einem Lied ein Schnippchen zu schlagen. Aber wie es aussah, würde er mit diesem Mief im Mund sterben. Wie es aussah, würde er mit diesen ungewaschenen Socken, die Freiheitsstatue vor Augen, in den East River fallen und für immer in den Fluten verschwinden. Und wenn ihn ein Taucher von Fischen zerfressen fände, würde es keine Beweise gegen die Straccis geben, aber jeder würde wissen, was es zu bedeuten hatte.
Dabei konnte er nichts für Jack Straccis Tod. Klar war er in der Kabine nebenan gewesen, klar hatte er gesehen, was passiert war, doch wenn die Glatzköpfe ihn auch nur ein klitzekleines bisschen kennen würden, dann wüssten sie, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Er war unglücklich in die Situation hineingerutscht, weil es Tonys Wunsch gewesen war, dass Harvy, Leadsänger seiner Lieblingsband, ihn auf das Schiff begleitete. Und da er sich Tony nicht widersetzen konnte, war er mitgegangen. Nun glaubten die Straccis, er hätte seine Hände im Spiel gehabt.
Er sah auf das gelbe Absperrband, das in einer Ecke Dämmplatten, Betonklötze und Holzpaletten mit Leuchtstoffröhren umgab, und schüttelte den Kopf. Wie verrückt einem das Leben doch mitspielte, wie bizarr und voller Missverständnisse es war! Er dachte an seinen Vater, der ihn in jungen Jahren gelehrt hatte, wie man Dinge mitgehen liess, und ihm beim Autofahren verboten hatte, sich anzuschnallen, da das Leben Risiko sei. Er dachte an seine Mutter, die Vaters Ideen und Harvys Griffe scharf verurteilte, trotzdem aber immer zu ihm gehalten hatte; er dachte an Jennifer, die er liebte, auch wenn sie eine Gangsterbraut war und in Kanada einen beunruhigenden Blockhütten- und Zurück-zur-Natur-Fimmel entwickelt hatte: Karibus jagen, sie ausnehmen, mit Kräutern aus dem Wald würzen, am offenen Feuer braten, dazu Lauch und Bohnen aus dem eigenen Garten. Zudem Waschen im Bach, Schlafen auf millimeterdünnen Strohmatten und zu allem Überfluss hatte sie, damit die Seele zur Ruhe kam, auch noch angefangen, stromfreie Tage einzuführen. Das hiess Musik ohne Ton, Rasieren ohne Erfolg, Rückenschmerzen ohne Ende.
Und er dachte an seine Jungs, mit denen er zusammen gespielt und die er so brutal vor den Kopf gestossen hatte, an den überwältigenden Erfolg der Raccoons – doch was zählte der angesichts des Todes? Was hätte er dafür gegeben, ein normales, unscheinbares Leben zu haben, dann würde er nicht hier sitzen und seine Füsse nicht mehr spüren. Verzweifelt versuchte er, sie zu bewegen, irgendwie Blut in sie hineinzupumpen, doch vergebens.
In seiner Jackentasche klingelte es. Er spürte, wie sein Herz heftig zu schlagen begann. Das musste Jennifer sein, wer sonst kannte seine Nummer? Aber wie er sich auch anstrengte, er konnte seine Hände nicht zum iPhone bringen. Immer wieder läutete es, verzweifelt ruckelte er auf dem Schemel hin und her, versuchte mit aller Kraft, sich zu rühren – es war unmöglich, an das Gerät heranzukommen. Eine bodenlose Wut stieg in ihm auf, es klingelte und klingelte, das Geläute hallte in seinem Kopf wider, brannte sich in sein Hirn, liess ihn zugleich erstarren, aufschrecken und fast verrückt werden: Die Rettung war so nah, doch er hatte keine Chance, den Anruf entgegenzunehmen.
Das Handy verstummte. Wenn er Glück hatte, war Jennifer, da er nicht abnahm, alarmiert und liess ihre guten Kontakte in die New Yorker Szene und zur Polizei spie-len – sie wusste, wann er ankommen sollte, und sie hatten ausgemacht, dass er sich meldete, wenn alles gut gegangen und er sicher zu Hause war. Aber sein iPhone war präpariert, niemand würde es orten und seine Spur verfolgen können. Niemand würde wissen, dass er in dem Kellergewölbe festsass und bald auf die Brooklyn Bridge verfrachtet wurde. Ohnmächtig betrachtete er die Stelle, wo seine Waden im Zement verschwanden, den haarigen Übergang vom Leben in den Tod. Oben pulsierte und hämmerte es wie verrückt, unten wurde alles immer tauber.
Nach einer Weile klingelte es erneut. Unablässig läutete es, Jennifer machte sich Sorgen, keine Frage, mit ihrem siebten Sinn spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Verbissen versuchte er, das Telefon aus der Jacke zu schütteln, vielleicht hörte sie ihn, wenn es zu Boden fiel. Aber die Glatzköpfe hatten nichts dem Zufall überlassen, hatten seine Hände mit perfekten Knoten über Kreuz zusammengeknüpft und seine Beine straff am Schemel festgezurrt, sodass alles Ziehen und Zerren umsonst war. Das iPhone hörte auf zu klingeln, und Harvy wusste: Das wars. Aus diesem Schlamassel gab es kein Entkommen.
Lesung aus dem ersten Roman «Mama Mafia»
Do, 6.12., 19.30 Stadtbibliothek Basel-West
Daniel Zahno
Daniel Zahno ist 1963 in Basel geboren und hat dort später Germanistik studiert. Seit 1996 ist er als Autor tätig und hat mehrere Erzählungen und Romane veröffentlicht. 2017 erschien sein New Yorker Thriller «Mama Mafia». Zurzeit arbeitet er an einem neuen Roman, der an «Mama Mafia» anschliesst. Diese Carte blanche ist der Anfang des neuen Werks.
www.danielzahno.ch