«Heimat», wollte der deutsche Autor Daniel Schreiber seinen Essayband ursprünglich nennen. Der Begriff hat eine lange Geschichte: Er wurde ideologisch vereinnahmt oder romantisch verklärt. Und so wählte Schreiber für sein Buch schliesslich den Titel «Zuhause», der ebenfalls mit Emotionen verbunden ist, aber frei von Ideologie.
In seinem Buch schlägt der 39-jährige Literaturkritiker und Susan-Sontag-Biograf, wie bereits in seinem Bestseller «Nüchtern» über die Alkoholsucht, den Bogen von persönlichen zu kollektiven Erfahrungen. Lebensnahe Einsichten von Philosophinnen, Schriftstellern, Soziologen oder Psychoanalytikerinnen geben den Blick frei auf unterschiedliche Konzepte von Zugehörigkeit, Zuhause und Verwurzelung.
Rigorose Ausgrenzung in der DDR
Ein Kapitel widmet Schreiber den Erfahrungen der Flucht, die seine Vorfahren als deutsche Siedler bei der Zwangsaussiedelung aus dem ukrainischen Wolhynien und der jahrzehntelangen rastlosen Odyssee machen mussten. Und er fragt sich, wie solche Erlebnisse die Nachkommen in ihrem Heimat-Empfinden prägen. Dazu zitiert er etwa den Psychoanalytiker Mark Wolynn, der darlegt, dass «posttraumatische Erfahrungen innerhalb von Familien über Generationen übertragen werden. Und dass sie auch unsere eigene Erlebniswelt genetisch und neurologisch formen.»
Mit seinen eigenen Kindheitserlebnissen in der DDR gibt Schreiber einen weiteren Einblick in seine persönliche Geschichte: Aufgewachsen in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, erlebte er als Junge, der schon früh seine homosexuelle Identität erkannte, rigorose Ausgrenzung. Kindergarten und Schule in der DDR der 80er, in der jegliches Anderssein hart bestraft wurde, wurden für ihn zur Hölle: «Kinder waren Objekte von Erziehungs- und Umerziehungsfeldzügen, von elaborierten Strafmassnahmen und kollektiven Indoktrinationsprogrammen.» Nur durch die Unterstützung seiner Eltern entging er der Versetzung in ein «Heim für schwer erziehbare Kinder», die seine durch und durch linientreue Lehrerin beantragt hatte.
Erforschung eines zwiespältigen Gefühls
Diese Erfahrungen gaben dem Autor, der später in weltoffenen Städten wie New York, London oder Berlin seine Zelte aufschlug, Anlass, das zwiespältige Gefühl zu erforschen, das ihn immer wieder übermannt: «Was war mit mir los? Ich sehnte mich nach einem Zuhause, zugleich aber verspürte ich den inneren Drang, wieder aufzubrechen.» Seine «Zuhauselosigkeit» liege auch in der früheren Stigmatisierung begründet, die sich in die «tiefsten Schichten des Selbst» eingräbt, ist Schreiber überzeugt.
Was ist das Zuhause? Ist es die Familie, die Liebe, der Freundeskreis oder die Sprache? Ein konkreter Ort oder eine unbestimmte Sehnsucht? Beschreibt es das Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit, das sich in politisch unstabilen Zeiten verstärkt? Und erfahren wir vielleicht sogar erst aus der Ferne, beim Verlassen der heimischen Komfortzone, woher wir kommen und wohin wir wollen? Diesen Fragen geht Schreiber, der heute in Berlin lebt, mit Herz und Verstand nach und lässt viel Raum für eigene Interpretationen.
Buch
Daniel Schreiber
«Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen»
144 Seiten
(Hanser 2017).