Eigentlich war es ein Zufall, der mich Mitte der Nullerjahre in das kleine Büro in der Upper East Side führte. Ich wohnte schon einige Jahre in New York und schrieb ein Buch über Susan Sontag. Eine der Freundinnen Sontags, die ich für die Biografie interviewte, hatte mir empfohlen, mit Stephen Koch zu sprechen. Nun sass ich in Kochs kleinem Büro, umgeben von Regalen mit Kisten, die das künstlerische Erbe des Fotografen Peter Hujar enthielten, das er verwaltete.
Hujar war 1987 an den Folgen seiner Aids-Erkrankung gestorben, er wurde nur 53 Jahre alt. Sontag war mit ihm befreundet gewesen und hatte ein Vorwort zum einzigen zu seinen Lebzeiten erschienenen Fotoband geschrieben. Mehrere Stunden lang erzählte mir Stephen Koch von «Peter», wie er ihn nannte, und wie ich ihn heimlich auch für mich bald nennen sollte. Und er zeigte mir seine Arbeiten, die für ungeahnte Erschütterungen in mir sorgten. Es waren die eindrücklichsten, die schönsten Fotografien, die ich je gesehen hatte.
Ich liebte es, in New York zu wohnen. Ich liebte das Brownstone-Haus, in dem ich und mein Partner lebten. Ich liebte Park Slope, unser Stadtviertel, die Ginkgo-Bäume in unserer Strasse, den alten Diner um die Ecke und den Bagel-Shop ein paar Strassen weiter. Ich liebte sogar die vielen Jobs als Privatkoch und Deutschlehrer, mit denen ich mich über Wasser hielt. Und ich liebte es, durch die Stadt zu streifen, stundenlang, ohne Ziel, durch die freundlichen, backsteinroten Strassen Brooklyns, die verwinkelten Wege des Village, durch die Häuserschluchten Midtowns.
Tagsüber, wenn ich nicht arbeiten musste. Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte.Auf diesen Spaziergängen sollte ich häufig an Hujar denken. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass mir seine Arbeiten, trotz ihrer Historizität, seltsam vertraut waren. Einige der Fotos zeigten Tiere und das Meer, andere das lange zurückliegende Nachtleben schwuler Männer, wieder andere die Architektur New Yorks. Doch am vertrautesten schienen mir seine Porträts und die darauf abgebildeten Menschen.
Einige von ihnen waren berühmt geworden, Susan Sontag etwa (Bild), der Schriftsteller William S. Burroughs, die Schauspielerin Candy Darling, die Künstler John Waters, Robert Wilson oder Paul Thek, Hujars erste grosse Liebe. Doch auch die anderen Freunde und Freundinnen, die er porträtierte, waren mir auf eine Weise nahe, die ich nicht verstand. Viele von ihnen strahlten eine verletzliche Schönheit aus. Häufig schauten sie so direkt in die Kamera, dass ich mich erkannt fühlte und glaubte, auch sie erkennen, sie berühren zu können.
Ich fühlte mich in jenen Jahren in New York zu Hause. Natürlich hatte dieses Gefühl viel mit dem Leben mit meinem Partner zu tun. Doch es war mehr als das. In New York war es vollkommen normal, queer zu sein. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, wie es war, wenn zwei Männer oder zwei Frauen nicht verstohlen angeschaut oder angepöbelt wurden, wenn sie in der U-Bahn Händchen hielten. Wie es war, wenn Menschen selbstverständlich ihre eigene Genderidentität auslebten.
Wenn man nicht das Gefühl hatte, permanent verurteilt zu werden, weder offen noch insgeheim. New York war der erste Ort in meinem Leben, wo ich mich wirklich frei bewegen konnte. Nach der Begegnung mit Stephen Koch las ich bald jeden Artikel, jedes Buch, jeden Katalog über Peter Hujar, seine Zeit und auch über den Künstler David Wojnarowicz, seine zweite grosse Liebe. Ich ging in jede Ausstellung, in der ihre Werke zu sehen waren. Irgendwann hatte ich das Gefühl, sie wären zu früh gestorbene, enge Freunde.
Ich fühlte mich in ihrer Kunst wirklich erkannt, fand mich darin auf ungeahnte Weise wieder – und verstand überhaupt erst, was Kunst alles in einem bewirken, wie sie einen verändern und Dinge neu sehen lassen kann. Während unseres Gesprächs berichtete Stephen Koch unter anderem davon, mit welcher Konsequenz sich «Peter» für seine Arbeit aufopferte. Davon, wie er ab Mitte der 70er-Jahre trotz bitterer Armut fast ganz auf Auftragsarbeiten für Zeitschriften verzichtete.
Davon, wie viele Aufnahmen er verwarf, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügten, wie viele gute Fotos er zerstörte, um der Nachwelt überragende Fotos zu hinterlassen. Hujar kämpfte darum, als Künstler wahrgenommen zu werden. Doch bis zum Ende seines Lebens blieb ihm diese Anerkennung weitgehend versagt. Bis heute glaube ich, dass niemand das, was die Gesellschaft als anders oder abweichend definiert, besser auf Papier gebannt hat. Seine Bilder sind weder konfrontativ noch voyeuristisch.
Weder machen sie ihre Modelle zu Objekten noch ermöglichen sie es den Betrachtenden, das zu tun. Es ist unmöglich, seine Arbeiten ohne ein Gefühl grundsätzlicher menschlicher Anteilnahme anzuschauen. Und ohne dass seine Fotoarbeiten das direkt thematisieren müssen, geben sie den Betrachtern immer auch eine Ahnung davon, wie hoch der Preis war, den Hujar und seine Freundinnen und Freunde dafür zahlten, dass sie versuchten, ihre Leben trotz aller Widerstände auszuschöpfen.
Anderthalb Jahre nach meinem Gespräch mit Koch trennten sich mein Partner und ich, und ich zog in ein kleines Zimmer in lag. An die leere Wand meines neuen Zimmers hängte ich neun meiner Lieblingsporträts von Hujar, die ich säuberlich aus einem Fotoband trennte und in regelmässigen Dreierreihen zu einem grossen Quadrat arrangierte. Ich lebte ein gutes Jahr mit den Fotos. Irgendwann nahm ich sie von der Wand und packte sie in einen der Koffer, mit denen ich zurück nach Berlin zog.
Bis heute schaue ich mir jeden Tag eines von Peter Hujars Fotos an. Nach dem Aufstehen, beim Arbeiten am Schreibtisch, vor dem Schlafengehen. Ich verrate nicht, welches. Ich habe den Eindruck, immer wieder etwas Neues von Hujar zu lernen. Etwas über mich selbst, über unsere Leben und unsere Körper, darüber, was Verletzlichkeit bedeutet, wie schön die Narben sein können, die uns das Leben zufügt.
Etwas darüber, wie es gelingen kann, sich Raum zu nehmen in einer Welt, die Menschen wie einen selbst immer wieder ausgrenzt – und dieser Welt trotzdem so viel zu schenken.
Zur Person
Daniel Schreiber, geboren 1977, studierte in Berlin und New York Literatur- und Theaterwissenschaften, Slawistik und Performance Studies. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist. 2007 ist seine Biografie über Susan Sontag erschienen. Mit seinen Büchern «Nüchtern» (2014), «Zuhause» (2017) und dem Bestseller «Allein» (2021) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Kürzlich erschien sein Buch «Die Zeit der Verluste». Daniel Schreiber lebt in Berlin.