Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Monate in London. Es war ein sanftes, schönes Frühjahr, wie man es eigentlich nur in England findet, und obwohl ich mich auf den Aufenthalt gefreut hatte, ging es mir schlecht. Ich hatte eine Trennung hinter mir, und auch die Welt um mich herum schien sich in einem Prozess der Auflösung zu befinden, oder zumindest nahm ich das so wahr. Eine der wenigen Tätigkeiten, die mir Linderung verschafften, war das Spazierengehen. Jeden Tag, kilometerlang. Von der Tower Bridge die Themse entlang zur Hochhausinsel von Canary Wharf, von dort zurück zum Limehouse Basin und zum Regent’s Canal, und von dort manchmal sogar zum Victoria Park mit seinen malerischen Teichen und seiner chinesischen Pagode.
Einige der Bilder aus jener Zeit, die mir am stärksten in Erinnerung geblieben sind, haben mit Tieren zu tun, mit Wasservögeln, um genau zu sein, auch wenn das zunächst komisch klingt. Auf den Spaziergängen hielt ich immer wieder inne, um die Mandarin-, Stock-, Tafel- und Löffelenten, die Kanada-, Grau- und Ringelgänse, die Höckerschwäne, Blässhühner und Haubentaucher zu beobachten, die auf den Kanälen und Teichen lebten. Ich lernte, ihre Färbungen und Verhaltensmuster zu unterscheiden, versuchte, ihre englischen Namen zu lernen, und freute mich über die kleinen, flauschigen Küken, die sie ausbrüteten, während das Frühjahr voranschritt.
Ich weiss nicht genau, warum ich das tat. Es hatte etwas Meditatives. Vielleicht kann man das, was der Anblick der Vögel in mir auslöste, als eine Form des Trosts bezeichnen, auch wenn es das nicht ganz trifft. Mich überkommt dasselbe Gefühl, wenn ich mir Dürers bedächtigen Feldhasen anschaue, George Stubbs’ majestätische Pferde, Bugattis hinreissende Tierbronzen oder Manets melancholischen «King Charles Spaniel». Eine gewisse Ruhe scheint uns zu erfüllen, wenn wir Tiere anschauen, jenseits aller sentimentalen und anthropozentrischen Projektionen. Tiere können uns berühren, und wir besitzen die Fähigkeit, uns von ihnen berühren zu lassen.
Viele Philosophen sahen das ähnlich. Selbst der über jede Sentimentalität erhabene Immanuel Kant erkannte in Tieren ein «Analogon der Menschheit». Da sie zu «Empfindung und Willkür» begabt seien, fühlen wir «in ihrer Ansehung» wie auch anderen Menschen gegenüber Dankbarkeit und Mitgefühl, Bewunderung, Furcht oder sogar Liebe.
Die bei Kant schon anklingende Idee der «Mitgeschöpflichkeit» wurde später von Theologen wie Christian Adam Dann und Albert Knapp, Mitbegründern der deutschen Tierschutzbewegung, weiter ausformuliert. Sie kulminierte schliesslich in Albert Schweitzers Werk und seiner Überzeugung, dass Tiere «unseresgleichen» seien.
Doch selbst der Gedanke der «Mitgeschöpflichkeit» impliziert, genau betrachtet, dass nur wir es sind, die auf die Tiere schauen, nicht anders herum. Dabei haben Tiere ihren eigenen Blick und schauen auch uns an. Erst der französische Philosoph Jacques Derrida umriss in seinem Buch «Das Tier, das ich also bin» ein Denken, das diesen Blick wirklich berücksichtigt. Er war der Überzeugung, dass die Grenzen zwischen Mensch und Tier nicht so klar gezogen sind, wie wir es glauben. Und wies auf unseren grössten Irrtum in unserem Verständnis von Tieren hin: Immer wieder berufen wir uns darauf, dass Tiere keine Vernunft haben, dass sie der Logos von uns trenne. Stattdessen sollten wir ernst nehmen, dass sie der Pathos mit uns verbinde. Denn Tiere leiden, genau wie wir, und es sei vor allem dieses Leid, das wir mit ihnen gemeinsam haben. Wir teilen ihre Verletzlichkeit und ihr Ausgeliefertsein.
Im Nachhinein kann ich nicht genau sagen, warum mir die Spaziergänge und das Beobachten der Wasservögel guttaten. Sicherlich hatte das auch mit den länger werdenden Tagen zu tun, dem Grün, den Endorphinen. Irgendwann stellte ich fest, dass alles um mich herum blühte, die Kirschbäume, Tulpen, Hasenglöckchen und Narzissen. Kurze Zeit später sass ich auf einer Grünfläche am Regent’s Canal und versuchte, ein Buch zu lesen. Plötzlich sah ich, wie eine Stockente auf mich zu watschelte und sich in aller Seelenruhe genau neben die Decke setzte, auf der ich sass, so nah, dass ich meine Hand nach ihr hätte ausstrecken können. Sie drehte kurz ihren Kopf zu mir, schaute mich an und richtete den Blick dann wieder auf das Wasser. Ein Bild völliger Gleichmut.
Es ist alles andere als abwegig zu glauben, dass wir auch über Artgrenzen hinweg kommunizieren können. Wenn Tiere uns berühren, können wir die Welt einen kurzen Moment lang mit ihren Augen sehen. Können erkennen, wie selbstverständlich sie ihren Leidenschaften folgen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Auch wenn sie keinen Begriff vom Schicksal haben, sind sie ihm treu ergeben. Und für diesen kurzen Moment erscheint unsere Welt, mit all ihren Dramen, all ihren Katastrophen, absurd und vollkommen bedeutungslos. Eine Form des Trosts eben, auch wenn es das nicht ganz trifft.
Lesung & Gespräch mit Daniel Schreiber
Fr, 17.1., 19.00 Hotel Beau Séjour Luzern
Infos: www.beausejourlucerne.ch/de/literatur-residenz.html
Daniel Schreiber
Der 1977 geborene Autor wuchs in Mecklenburg-Vorpommern auf und hat in New York und Berlin Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Heute lebt Daniel Schreiber in Berlin und arbeitet als Kunstkritiker, Essayist und Übersetzer. Der 42-Jährige ist Autor der Susan-Sontag-Biografie «Geist und Glamour» (2007). Zuletzt ist sein Band «Zuhause» erschienen, ein persönlicher Text über «die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen» (Hanser Berlin). Im Januar ist der Autor Literatur-Residenz-Gast im Hotel Beau Séjour in Luzern.