Kennen Sie das? Sie schauen mit Genuss Kochsendungen, es wird Appetitlichstes zubereitet, Sie erfahren von neuen Garmethoden, Messerarten, exotischen Kartoffeln mit mehrwörtrigen Namen (Mrs. Moerles Purple Baker), Sie werden Expertin im Gewürzehacken, Experte im Soufflézubereiten. Danach hauen Sie sich ein paar Spaghetti in den Topf, Sauce drüber, fertig.
Ich sags ganz ehrlich. Ich kenne das nicht. Ich koche (wenn ich denn beide Hände frei habe, weil gerade kein Kleinkind brüllt) mittelgut und durchaus gern, aber interessiere mich des Weiteren nicht für Gerichte, die nur im Fernsehen stattfinden.
Aber lustig machen will ich mich über die nutzlose Zeitverschwendung nicht. Denn ich kenne es ja doch. In meinem Fall handelt es sich um: Brettspiele.
Ich liebe sie.
Ich weiss alles über sie.
Ich kenne jeden Youtube-Beitrag zum Thema.
Ich weiss über jede Neuerscheinung Bescheid.
Und ich komme sehr selten zum Spielen.
Aus lauter Grossinteresse hätte ich nicht wenig Lust, hier all meine Lieblingsspiele aufzulisten, und die, welche ich noch nicht gespielt habe. Ich würde gerne jeweiliges Für und Wider abwägen, Brettspielmechaniken erörtern, Sie mit Fachwissen zutexten, das ich mir auch bloss beim passiven Genuss angeeignet habe. Aber um Brettspiele geht es hier ja nicht. Leider. Es geht um das nutzlose Expertewerden in selbst kaum praktizierten Belangen.
Sie wissen, was ein Geek ist?
Zirkusse im frühen Amerika eröffneten die Show mit einem, der ein Huhn jagte und ihm am Ende der Nummer den Kopf abbiss. Und diesen runterschluckte.
Manchmal auch Frösche, Schlangen, aber eigentlich immer den Kopf.
Ekliges Zeug halt.
Danach kamen in der Nummernfolge die Freaks dran, die «Abnormalen». Geeks hingegen waren «normal», sie taten bloss Nicht-Normales. Seltsame Typen, die seltsame Interessen hatten.
Aber seit Geeks keine Hühnerköpfe mehr abbeissen (sondern das Huhn an Safranmarinade im Ofen bei acht Stunden mit Unterhitze niedergaren lassen – dazu reichen wir eine feingedünstete Mrs. Moerles Purple Baker mit …), seit Geeks also in der heutigen Zeit angekommen sind, hat sich der Begriff gewandelt und sind sie schlicht: Sich-Auskenner. Und Kennerinnen.
Und sie sind überall. Jeder und jede ist ein Geek, kennt sich hochleidenschaftlich mit etwas Hochspezifischem aus. (Man verwechsle den Begriff bitte bloss nicht mit den Nerds, das sind sozialinkompetente Streber; lustig, dass sich trotzdem viele gerne so bezeichnen. Aber ein Film-Nerd ist in Wirklichkeit meist: ein Film-Geek. Aber das nur als Bildung am Rande.)
Was ich eigentlich sagen will: Trotz allgegenwärtigem Geektum vermisse ich die Sich-auskennen-Zeiten meiner Jugend. Damals ging es um Musik.
Es ging um dir Gretchenfrage: Was hörst du?
Und man stellte diese Frage als Erstes und eigentlich allen, und es machte auch wirklich einen Unterschied, wie die Antwort ausfiel. War sie einigermassen im grünen Bereich, glich man sofort ab, was man selbst mochte, wo Überschneidungen waren, und was es zu verspotten galt.
Man durfte denken: Das hört der, ach so ist der.
Und der erste Blick, wenn einem eine dann mal mit nach Hause genommen hatte, galt dem CD-Regal (Sie erinnern sich, das stand mal in jedem Zimmer, damals in den grauen Vorzeiten des Wie-lang-das-schon-her-ist), und man hoffte, dass neben den zeitweilig obligatorischen Cranberries nicht bloss Kuschelrock VII zu finden war. (Schon mit dem ebenfalls beinahe obligatorischen Pulp-Fiction-Soundtrack gab ich mich hingegen zufrieden. So streng war ich ja auch nicht. Immerhin hatte sie mich mitgenommen.)
Aber eben: Man kannte sich aus, hatte eine Meinung zu den meisten Bands, falls unbekannte Namen auftauchten, war das ein Anlass, der Sache nachzugehen.
Oh selige Zeiten. (Hochoffiziell bin ich nun ein alter Sack: Mit einem Hauch über 40 bereits die eigene Jugend verklären?! Und überhaupt: Wieso selig?)
Denn das Wissen, auf das man sich berief, war ein kollektives.
Klar, ich hatte mich vielleicht ein bisschen mehr für Musik interessiert als andere. Aber es war eine überschaubare Anzahl an Bands, auf die man sich einigen (oder über die man sich uneinig sein) konnte. Es gab die gemeinsame Basis, kleine Abweichungen und spezielle Funde boten Gesprächsanlass.
Eben dieses: Was hörst du? – Ach so, das!
Zu wissen, dass, sagen wir, U2 gerade ein neues Album herausgebracht hatten, und eine Meinung dazu zu haben (ich habe U2 so gut wie nie gemocht, ausser bei der einen Platte, die ansonsten so gut wie niemand mochte), war eigentlich nutzlos. Aber es war eben auch identitätsstiftend, eine Meinung dazu zu haben.
Diese Art Öffentlichkeit ist unterdessen weg. Die Digitalisierung hat sie geschluckt. Das traf als Erstes die Musik, später die Literatur (nicht wegen raubkopierter E-Books, sondern, weil es nicht mehr das eine aktuelle Buch gibt, das alle gelesen haben und das auch die kennen, die es nicht gelesen haben). Zwischenzeitlich kamen die Serien, da konnte man wieder neu abgleichen, über die aktuelle Folge Mad Men reden, sich doch noch Lost aufschwatzen lassen und hängenbleiben, sich Tipps geben, spotten über schlechte Wahl. Und als letztens die letzte Folge Game of Thrones lief, wussten auch die Bescheid, welche die Serie, wie ich, nie geschaut hatten.
Und nun sind auch die Serien weg. Nicht weg-weg. Aber weg aus der allgemeinen Öffentlichkeit. Ausdiversifiziert in einzelne Geschmackskämmerchen.
Sich auskennen, das ist nun ein privates Vergnügen. Jedem das seine.
Sie wählen Essenszubereitung. (So meine Unterstellung, ich kenne Sie ja nicht.) Ich Brettspiele.
Damit wir uns recht verstehen. Das Internet ist für mich erfunden worden. Ich habe mich schon immer gerne ausgekannt. Mich sinnlos weiterzubilden, mir nutzloses Wissen anzueignen, ist mein Genuss. Ich konsumiere. Youtube, Wikipedia. Austauschen darüber tue ich mich nicht, es sei denn, ich habe wie heute das Glück, für einen Text wie diesen, das Wort Geek in die Suchmaschine einzutippen und mein neu angeeignetes Wissen über amerikanische Zirkusse des ausgehenden 19. Jahrhunderts direkt an Sie weitergeben zu dürfen.
Man würde nun denken: dass wir uns heute nicht mehr verstehen. Weil wir uns nicht mehr gemeinsam auskennen. Sondern jeder und jede für sich.
Aber wir sind auch höflicher geworden. Lassen die anderen in Ruhe.
Das Internet ist wie die Schweiz.
Weil man einander dauernd sehen kann, hält man sich bedeckt. – Bloss wenige Stammtischler hauen statt auf den Tisch in die Tasten und breiten sich in Kommentarspalten aus, aber die meisten schauen sich das bloss an. Man bleibt zurückhaltend, ist sich egaler geworden. Ach so, Kochsendungen? Na, von mir aus.
Worauf können wir uns noch einigen?
Darauf, dass wir uns mit Sinnlosem beschäftigen.
Aufs gemeinsame Geeksein können wir uns einigen.
Dass es sinnlos ist, all das Wissen. Eine sinnlose Beschäftigung, deren Reiz genau das ist: Dass sie sinnlos ist.
Wie bei der Kunst.
Dass sie nutzlos ist, ist ihr Nutzen.
Und wenn wir nicht mehr gemeinsam über Kunst reden können, weil wir nicht dasselbe kennen, dann reden wir doch über unser Geeksein:
Kennen Sie das? Dieses Sich-sinnlos-Auskennen.
Ich auch.
Daniel Mezger
Der Schriftsteller wurde 1978 geboren und ist in Linthal GL aufgewachsen. Er schreibt Theaterstücke und Romane. Kürzlich erschienen ist sein zweiter Roman «Alles ausser ich» im Salis Verlag.
www.danielmezger.ch