Was können Schreibende und Lesende in der Schweiz für die aus Syrien Flüchtenden tun? Als mir die Theaterfrau Gunda Zeeb von einem Veranstaltungsraum erzählte, über den sie eineinhalb Monate lang verfügt, beschlossen wir, da eine Benefiz-Lesereihe zu veranstalten. Der Ticketerlös sollte vollumfänglich an Michael Räber (Projekt «Schwizerchrüz») gehen, einen jener Schweizer, die im nordgriechischen Idomeni aktive Soforthilfe leisten. Ich sprach auf Lesungen einige Autorenfreunde darauf an, ob sie unentgeltlich für das Projekt lesen würden, und fast alle reagierten mit Begeisterung. Bei der Doodle-Umfrage zwecks Terminplanung geschah Folgendes: Die Autoren markierten die Abende, an denen sie frei wären, und statt eine Auswahl vorzunehmen, nahm ich alle Termine als gesetzt und schrieb sie ins Programm. Auf diese Weise kamen wunderbare Gemeinschaftslesungen zustande: Rolf Lappert, Thomas Meyer, Ruth Schweikert und Jens Steiner wurden Autoren des Hauses, Stefan Keller las gar bei fünf der sechs Veranstaltungen (wir hatten notabene auch eine Kinderveranstaltung). Einige Autoren ermunterten uns, die Reihe weiterzuführen, die Gemeinschaftslesungen gäben auch den Schriftstellern viel und man sei ja als Künstler immer auf der Suche nach einem Umfeld für den Austausch.
An den ersten drei Leseabenden waren wir weitgehend unter uns, doch dann verbreitete sich die Kunde von unserem Projekt, und es kam ein immer zahlreicheres Publikum zustande. Das Schöne an dieser Entwicklung war, dass sich das Publikum in unser Künstlergespräch einfügte und dieses «Unter-uns» bestehen blieb, nur dass es weiter Schwung aufnahm dank der Mehrstimmigkeit. Wir lasen aus unseren neuen Büchern oder aus Büchern anderer, mit denen wir uns beschäftigten, und manche schrieben auch neue Texte für den Anlass.
Die vorgetragenen Texte handelten nicht alle von der Migration, aber alle von der Menschlichkeit und von dem, was uns als Künstler und als Menschen mit Sensorium für alles Menschliche zusammenhält. Seit meiner Kindheit im kommunistischen Rumänien, als Bücher einen besonderen Stellenwert hatten und verbotene Bücher in Handschriften weitergereicht wurden, bin ich überzeugt, dass uns die Literatur zu mehr Empathie erzieht: Nicht durch einen rechthaberischen Ton, sondern durch die Herausforderung, fremden Gedankengängen zu folgen. Wie schreibt man in der Diktatur, welche Zwänge erlebt der Schriftsteller in der freien Welt, was behindert das Schreiben und was treibt es an? Was macht den Wert eines Buches aus, jenseits des Buchhandelshypes?
Es gab keine moderierten Abende, nur kurze Einführungen zu den Autorinnen und Autoren und den vorzutragenden Text, mancher Autor stellte dann seinen Text auch selber vor oder verortete ihn. Wie spielerisch und experimentierfreudig kann die Kunst sein in Zeiten grosser Ernsthaftigkeit? Was kann die Kunst, was vermag sie in bewegten Zeiten, was muss sie tun beziehungsweise wovon macht sie sich frei? Auf diese Fragen antworteten wir mit unseren Texten. Im Anschluss an die Lesungen sassen wir noch ein, zwei Stunden da und sprachen miteinander und mit den Gästen bei einem Glühwein oder bei einer warmen Suppe. Nach der zweiten Lesung befreiten wir uns von dem Zwang der Abendkasse – wir stellten am Eingang eine Spendenbox hin.
Unsere Gespräche waren erstaunlich politisch, erstaunlich deshalb, weil uns allen die Unkenrufe bekannt sind, nach Frisch und Dürrenmatt gäbe es unter den Schreibenden nur politisch Apathische. Wie falsch! Mag sein, dass die Studierenden der Germanistik in Zürich den literarischen Veranstaltungen grundsätzlich fernbleiben, nur Frisch und Dürrenmatt lesen, aber die Schweizer Schreibenden der Gegenwart sind gerade durch ihre Tätigkeit Seismografen ihrer Umgebung, unweigerlich also politisch. Nur werden sie nicht mehr als Sprachrohre der Gesellschaft wahrgenommen, weil sich ihre Bücher über den Marktwert definieren, eine Buchsaison lang, höchstens zwei, danach sind es Gedanken von gestern.
Entgegen diesem Verschleuderungstrend der Kulturkanäle wollen wir unsere Benefiz-Leseabende weiterführen. Es haben uns viele Schreibende kontaktiert, aber auch an Literatur interessierte Schauspieler und Musiker, die den performativen Charakter lebendigen Gedankenaustausches schätzen. So werden nun, im Anschluss an unsere Lesungen, die Schauspieler Ariela und Thomas Sarbacher aus übersetzten Büchern vorlesen. Alle vorgestellten Bücher liegen auf: Die kleine, kürzlich in Zürich eröffnete Buchhandlung «zum Mittelmeer und mehr» begleitet uns weiterhin. Auch dies ist eine Geschichte, die man hinaustragen möchte: Wie in Zeiten, in denen kleine Buchhandlungen unrentabel werden und zumachen, zwei Frauen nebenberuflich und mit grosser Leidenschaft einen Laden eröffnen, weil sie an das Buch glauben.
Unser Veranstaltungsraum heisst Réunion, ein Name, der unser kollegiales Beisammensein trefflich bezeichnet, denn wir streben eine regelmässige Réunion in Zürich an, eine Réunion aller, die an die zivilgesellschaftliche Kraft von Literatur glauben. An unseren Abenden thematisierten wir die Stringenz einer Stellungnahme zur aktuellen Schweiz- und Europapolitik, aber auch – sehr wichtig – den Umgang unserer Gesellschaft mit der Kultur: In dieser prekären Zeit wollen wir mit unseren Benefiz-Leseabenden ein Zeichen setzen, ein Zeichen, dass am Anfang der Kunst der Mensch steht und die Menschlichkeit.
Dana Grigorcea
Dana Grigorcea ist rumänisch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie ist 1979 in Bukarest geboren, wo sie Deutsche und Niederländische Philologie studierte. Die Autorin lebt seit 2007 mit Mann, Tochter und Sohn in Zürich. 2015 erschien ihr Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» im Dörlemann Verlag. Dafür wurde sie 2015 in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet und für den Schweizer Buchpreis nominiert. Der nächste Leseabend findet am Do, 24.3., um 19.00 im Réunion, Müllerstrasse 57, Zürich, statt. Weitere Infos: www.benefiz-zuerich.ch