Zu den unabdingbaren Wohltaten, die ich mir auch für die kommenden Jahre wünsche, zählen die Spaziergänge mit meiner Freundin Ana Silvestru. Es sind erratische Spaziergänge um und durch Zürich, meistens in der Nacht, bei denen wir es schaffen, uns in bekannter Umgebung zu verlieren und sie so immer wieder neu zu entdecken. Wir verabreden uns «nur für kurz», «wirklich nur für kurz», denn wir haben beide viel zu tun, ich mit meinem neuen Roman und Ana mit ihren vielen Klavierkonzerten, für die sie unmenschlich viel probt.
Sie ist eine hervorragende Konzertpianistin. Ich war unlängst im Museum Haus C. G. Jung, als sie dort «Le sacre du printemps» gab, und ein ganzes Orchester hätte nicht tonreicher spielen können. Das Publikum sprang auf, aufgewühlt, «ich ha denggt, es gäb glii en Orgie», kommentierte eine alte Dame am Ausgang. So sind Anas Konzerte, auch jene in London, in der marokkanischen Wüste bei Fès, in Japan oder Bhutan, die ich im Stream online verfolge.
Ana klappt die langen Flügel ihres Jacketts übereinander, weiter unten verschränkt sie die Arme vor der Kälte, und wir schreiten voran, nur kurz, eine weitere Runde und noch eine weitere, etwas längere, wenn schon, wir sind ja mitten im Gespräch. Wir gehen zügig, so wie wir auch reden, auf Rumänisch: Das schnelle Reden bedingt den schnellen Gang, das ruckartige Abbiegen in den Gassen, das hallende Lachen, viel zu laut für die späte Stunde. Wir sind begeisterte Zürcherinnen, Bukaresterinnen von Geburt, als Künstlerinnen überall zu Hause.
Wie verhält sich die Gesellschaft zur Kunst? Darum kreisen unsere Gespräche. 16 Jahre lang hat der französische Staat für ein Kunstwerk des rumänischen Bildhauers Constantin Brancusi prozessiert, bis es in seinen Besitz überging – die Beharrlichkeit finden wir vorbildlich, denn die Kunst gehört allen! Brancusis Kunstwerk «Der Kuss» ehrte eine aus Liebe gestorbene junge Frau.
Mehr als 100 Jahre später spürte ein französischer Anwalt die Nachkommen der Besitzer in Russland auf und ermutigte sie, das Kunstwerk, das einen Grabstein in Montmartre, dem Pariser Edelfriedhof, ziert, zu beanspruchen. Der Wert des Kunstwerks wurde auf bis zu 50 Millionen Euro geschätzt. Aber der französische Staat hielt dagegen. «Richtig so!», sagen wir. Vorbildlich. Vor ein paar Jahren bemühte sich der rumänische Staat darum, ein Werk Brancusis den Eigentümern, denen es zurückerstattet wurde, abzukaufen.
Ein nationaler Aufruf um Spenden wurde gestartet, mit dem Slogan: «Brancusi gehört mir.» Namhafte Künstlerinnen und Künstler spendeten und warben für weitere Spenden, auch Ana und ich legten je eine Gage hin. Die Sache versandete allerdings, denn von den benötigten 20 Millionen Euro kam nur eine einzige Million zusammen. Nun steht «Die Weisheit der Erde», wie die Skulptur der knieenden Frau heisst, irgendwo unter Verschluss … «Sie wartet auf einen Käufer aus Saudi-Arabien», kommentiert Ana.
Und gerade zu diesem Thema hat sie ein neues Projekt: Sie will, mitten in Paris, vor Brancusis nachgebautem Atelier beim Centre Pompidou, ein öffentliches Konzert geben. 16 Stunden will sie spielen, ununterbrochen, für die 16 Jahre, die der französische Staat an Brancusis Werk festgehalten hat, in der Überzeugung, dass die Kunst uns allen gehört. Spielen will Ana vor dem Centre Pompidou das berühmt-berüchtigte Stück des Brancusi-Freundes Erik Satie: «Vexations», Vexierungen.
Es ist nur eine halbe Seite Partitur, die aber, gemäss den Anweisungen des Komponisten, 840 Mal in Folge zu spielen ist. Ana summt es mir vor: Es ist labyrinthisch, und obwohl harmonisch, entzieht es sich meiner Erinnerung. Irritiert schaue ich hinauf, in die tellerförmigen Blätter eines Trompetenbaums – und einen Moment lang wissen wir beide nicht, wo wir sind, obwohl wir schon mehrfach hier vorbeigekommen sind …
«Vexations» wurde im Jahr 1893 komponiert und erst 70 Jahre später uraufgeführt, in New York, von einer Gruppe von zwölf Pianisten um den Komponisten John Cage. Ein einziger Zuschauer blieb die ganze Konzertdauer lang da und berichtete im Anschluss von einer mystischen Erfahrung. Er sei nach dem Konzert nicht mehr der Gleiche gewesen wie zuvor. Dies sagten auch einige der Pianisten. Wenig später wurde «Vexations» in London von einem Pianisten allein gespielt.
Der junge Richard Toop wagte sich an das Stück und interpretierte zudem Saties Anweisung «très lent» derart, dass sein Konzert ganze 24 Stunden lang dauerte. Damit brach er alle damaligen Rekorde für eine Konzertdauer.Seitdem finden sich immer wieder Konzertpianisten, die diesen Mount Everest der Kunstdarbietung erklimmen wollen.
Manche geben im Nachhinein auch Tipps, wie sich Nachkommende für dieses Unterfangen vorbereiten sollten: Yoga und Pilates für die Rückenmuskulatur, Vitamin A- und C-haltige Nahrung, drei Tage zuvor wenig trinken, denn beim Konzert kann man stundenlang nicht mehr auf die Toilette … Zur Vorbereitung auf ihr Konzert in Paris will sich Ana nur nach Meister Satie richten. Der sagte: «Um dieses Motiv 840 Male zu spielen, wird es gut sein, sich darauf vorzubereiten, und zwar in grösster Stille, mit ernster Regungslosigkeit.»
«Verstehst du», sagt Ana, «die ‹Vexations› sind kein Rennen, kein männlicher Triathlon … Sie sind eine Einkehr, die eine Vorbereitung in Demut verlangt. Demut vor der menschlichen Natur und ihrer Verletzlichkeit». Erik Satie notierte das Motiv, als er verlassen wurde von seiner Geliebten, der Künstlerin Suzanne Valadon. Sie verliess ihn für einen Banker … «Nein», ruft Ana zu fortgeschrittener Abendstunde durch die stillen Gassen der Zürcher Altstadt. «Nein», ruft sie und bleibt vor einer schicken Modeboutique stehen, die flinken Pianistinnenhände vors Gesicht gefaltet.
«So ein Stück verlangt nur Demut allein! Denn es ist eine Selbstbefragung, ohne Finalität, ohne Ende.» Eine Selbstbefragung ohne Ende – auf ins neue Jahr!
Zur Person
Die schweizerisch-rumänische Schriftstellerin Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren und lebt mit ihrer Familie in Zürich. Ihre Werke wurden zahlreich übersetzt und ausgezeichnet. Ihr Roman «Die nicht sterben» wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert und 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dana Grigorceas neuer Roman «Das Gewicht des Vogels beim Fliegen» erscheint Ende Februar 2024. Ana Silvestru spielte die Musik für die CD ein, die Grigorceas Kinderbuch «Mond aus!» (2016) begleitet.