«Kein Leben ohne Tod.» – «Nichts ist unvergänglich.» – «Wo es Zeit gibt, muss alles vergehen.» – Sätze über Sätze, in Stein gemeisselte Erkenntnisse, wir sollen uns mit ihnen abfinden, wir sollen, so heisst es, uns früh genug mit unserer eigenen Hinfälligkeit auseinandersetzen und uns keinem Unsterblichkeitswahn hingeben.
Und doch oder gerade deswegen machen wir Hinterlassenschaften. Wir können anscheinend gar nicht anders, wir suchen, unsere Endlichkeit zu bewältigen, indem wir über unser Leben hinaus denken: Wir bauen Wohnhäuser, Konzertsäle, Agrarlandschaften und Friedhöfe, die uns überdauern.
Wir machen neue Kinder für ein kommendes Jahrhundert, wir vermachen ihnen unsere Namen, unsere Gene und unsere Konten, wir übertragen ihnen unsere Zukunft. Wir erfinden Paradiese und das Jenseits. Wir lassen nicht locker.
Eine Fliege, die nach einem Tag schon verendet. Eine Pflanze, die nur einmal blüht. Ein Tier, das ein einziges Mal Sex hat. Sterne, die erlöschen, wenn die Energie in ihrem Innern, die das Gas zum Leuchten bringt, aufgebraucht ist – und sei es in Millionen von Jahren.
Unter geht einmal alles: Bakterien, Bakterienklumpen, Unterwasserpilze, Flüsse, Berge und Weltenmeere, Planeten, Sonnensysteme und Universen. Unter geht das Schöne, das Kluge, das Erregte, unter geht der Gedanke, unter geht das Kunstwerk. Aber das ist doch kein Grund, traurig zu sein, sagt eine Ich-Figur in Sigmund Freuds Essay über die Vergänglichkeit aus dem Jahre 1916 zu einem Dichter: «Ich erklärte es für unverständlich, wie der Gedanke an die Vergänglichkeit des Schönen uns die Freude an demselben trüben sollte.» Ein Satz, gesprochen inmitten von Millionen von Toten des Ersten Weltkriegs. Dem Dichter hingegen, mit dem diese Ich-Figur unterwegs ist (man munkelt, es handle sich um Rilke), scheint alles Seiende von vornherein allein dadurch entwertet, dass es dem Vergehen geweiht ist. Er ist einer, der durchhört durch die Zeiten und Phänomene, und der gar nicht anders kann, als nur zu sehen, dass alles immer auch ein Ende hat.
Gegenwärtig gibt es circa 6000 Sprachen auf der Welt, den Voraussagen nach werden 70 bis 80 Prozent davon bis zum Ende des 21. Jahrhunderts aussterben. Hauptgrund: die jahrhundertelange politische Unterdrückung von Sprachen indigener Bevölkerungen und das dominierende monolinguistische Verständnis, das kaum mehr Platz für die Expansion kleiner Sprachen lässt. Natürlich ist das bedauerlich, denn diese Sprachen enthalten ein unschätzbares Wissen über frühere Lebensweisen. Sie sind Archive über den Umgang mit Natur und über untergehende soziale Beziehungsformen, die ihnen eingeschrieben sind.
Und man spricht auch vom grossen Artensterben: Noch in diesem Jahrhundert, so sagen die Experten, werden etwa 50 bis 70 Prozent der bisher bekannten 1,8 Millionen Arten – die Hälfte davon sind Insekten – aussterben. Hauptgrund: Zerstörung von Lebensräumen. Woher denn rührt unser grosses melancholisches Herz für Dinosaurier und Säbelzahntiger, weshalb machen wir die untergegangenen Säuger zu Helden der Gegenwart?
Den Süsswasserpolypen Hydra kann man in einzelne Teile zerstückeln, und aus jedem Teil wächst wiederum ein ganzer, voll funktionsfähiger neuer Polyp. Möglich ist das, weil ein solcher praktisch nur aus Stammzellen besteht. Biologen feiern ihn als unsterblichen Organismus, da man ihn im Labor, zumindest, so lange es Wasser gibt, theoretisch ewig am Leben erhalten kann. Dafür muss man ihn nur immer wieder neu zerhauen.
Der Mensch hat es ohne Gottes Hilfe geschafft, selbst etwas nahezu Ewiges herzustellen: Die schädliche Strahlung von hochradioaktiven Abfällen hält Hunderttausende von Jahren an.
Noch gibt es auf der ganzen Welt kein Endlager für solche Abfälle, sondern nur Zwischenlager. Das erste Land, welches eine Baugenehmigung für ein Endlager erteilt hat, ist Finnland; in Schweden ist ein entsprechender Antrag in Prüfung. Die Vision des perfekten Endlagers sieht so aus: Der Müll wird Hunderte von Metern unter der Erdoberfläche deponiert, wo er Hunderte von Jahren beaufsichtigt werden muss. Irgendwann dann einmal kann er sich selbst überlassen werden, ohne weitere Kosten und Schäden für Mensch und Umwelt zu verursachen. So will man eigens gemachtes Unvergängliches verschwinden lassen.
Was kann ich in mir finden, das nach mir wirklich bleibt? Ein Wort zu Freunden bei einem Glas Wein? Pädagogisch Platziertes bei jungen Leuten? Digital gespeicherte Fabrikate, analoge Materialien, tiefgefrorene Nachkommen?
An einem einzigen Tag werden weltweit 380 000 Babys geboren, am gleichen Tag hören 180 000 Menschen auf zu leben. Hoffen wir nicht, zu etwas gut zu sein? Hoffen wir nicht, etwas zu bewirken, und zwar am liebsten im anderen? Also in dir zum Beispiel. Auf dass ich in dir bleibe, auf dass ich etwas anrichte, das dir zu eigen werde, auf dass ich mich in Menschen hineindrücke und dann fortgehe und sie hinter mir lasse. Unter gehen, hinter bleiben.
Aber nein, wir wollen nicht auf (Gottes) Antworten hoffen, wir wollen lieber selbst antworten, unseren eigenen (grossen) Geist verwendend, also: Was bedeutet Vergänglichkeit?
Ich habe keine Erinnerung an meine Urgrosseltern, nie gesehen, nie erfahren, kaum ein Wissen über sie. Von meinen Grosseltern sagt ein Nachkomme heute dasselbe.
«Ach, hört doch auf mit den Kindern.»
Was haben wir nur gegen das Ableben, was haben wir dagegen, spurenlos zu verschwinden und vergessen zu gehen?
Ja was denn?
Corina Caduff
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Corina Caduff ist 1965 in Chur geboren und heute als Professorin an der Zürcher Hochschule der Künste tätig. Sie hat unter anderem verschiedene Essaybände publiziert, zuletzt «Szenen des Todes» (Lenos 2013).