Vor zwei Jahren kam der richtige Zeitpunkt: Die Comic-Künstlerin Lika Nüssli weilte für ein Atelierstipendium in Belgrad, es war gerade Lockdown mit Ausgangssperre. Daheim in der Ostschweiz war die Situation für den Vater Ernst ähnlich: eingeschlossen im Altersheim. Beide waren sie einsam. Lika Nüssli telefonierte oft und erfuhr in den langen Gesprächen auch mehr zum traurigen Lebensabschnitt ihres heute 85-jährigen Vaters. Er war ab Ende der 1940er-Jahre Verdingkind im Toggenburg. «Wir haben daheim eigentlich nicht darüber geredet», erzählt Lika Nüssli (48) im Gespräch mit dem kulturtipp. «Aber es war auch nicht tabu.» Beim telefonischen Kontakt und später bei Besuchen im Heim ist alles konkret geworden mit Blick auf einen geplanten Comic-Band. «Es sind immer wieder neue Geschichten aufgetaucht.»
«Man hat ihm das Gesicht genommen»
Lika Nüssli erinnert sich, dass die Träume und Albträume etwas vom wenigen waren, wovon der Vater von sich aus erzählte, wenn er sagte: «Jetzt habe ich wieder geträumt von damals, jetzt hatte ich wieder einen Albtraum.» Er sei ein starker Träumer, wie sie selber übrigens auch. Ebenso erkannte sie im Verlauf der Arbeit, wie viel sie von ihrem Vater habe. Die Verdingkind-Zeit habe ihn traumatisiert und geprägt – «dem wollte ich entsprechend Raum geben, daher die Albtraumbilder im Buch». Es sind grosszügige Panoramadoppelseiten.
Der Comic-Band «Starkes Ding» ist in rigorosem Schwarz-Weiss gezeichnet, mit viel Weissraum. Dieses Formale verweist auch auf Inhaltliches: Die Zeichnerin hat sich gestalterische Freiheiten genommen und fand es wichtig, «auch Leerstellen zu lassen», statt ein detailliertes, realistisches Bild zu zeichnen. Der gewählte Strich ist ein «naiver», ein stark reduzierter und abstrahierter. Ihr Vater Ernst als Kind ist karikiert dargestellt, nicht «ebenbildlich».
Auf dem Titelblatt hat er gar kein Gesicht, man sieht ihn nicht hinter dem riesigen Heubündel auf dem Rücken. «Es zeigt die Verdinglichung, man hat ihm das Gesicht genom-men, es ist nur ein Ding, das da geht.»
Auch ein Stück Schweizer Geschichte
Freiheit existiert in den Bildern, aber nicht beim Text, betont die Zeichnerin: «Alles, was gesagt wird im Comic, ist O-Ton.» Es erscheint in altmodischer Schnürlischrift. Der Comic ist neben der Lebensgeschichte von Ernst Nüssli auch ein Stück Schweizer Geschichte: Eine Bauernfamilie im Toggenburg versorgte sich selbst, war arm und hatte noch keine Elektrizität im Haus. Armut war auch der Grund dafür, dass der zwölfjährige Ernst, eines von sieben Kindern, für ein paar Jahre weggegeben wurde, auf einen Hof, wo er im Stall und auf dem Feld schuften musste, wenig zu essen bekam und Gewalt ausgesetzt war.Vater Nüssli wollte übrigens nie sehen, was seine Tochter über ihn zeichnete. Er habe immer gesagt: «Du machst es schon gut.» Als er die fertige Arbeit dann sah, reagierte er mit Freude und Stolz. Er sei überrascht gewesen, wie gross und dick das Buch sei. Aber auch, angesichts des Verkaufspreises von 32 Franken: «So billig?!»
Werkschau
Lika Nüssli – Im Taumel
Umfangreiche Retrospektive zum Schaffen von Lika Nüssli mit Ausstellungen, Performance, Workshops, Open Atelier, Talks
Bis So, 29.5., Cartoonmuseum Basel
www.cartoonmuseum.ch
Radio
Kontext: Lika Nüsslis Comic «Starkes Ding»
Di, 12.4., 09.05 Radio SRF 2 Kultur
Festival
Fumetto – Comic Festival Luzern
Sa, 2.4.–So, 10.4.
Ausstellungen, Podien u.a.; Workshop und Gespräch mit Lika Nüssli
www.fumetto.ch
Buch
Lika Nüssli
Starkes Ding
232 Seiten
(Edition Moderne 2022)
Wahre Lebensgeschichten in Bildern
Die Autorin Mira Jacob wurde 1973 als Kind indischer Einwanderer in New Mexico geboren, lebt heute in New York und ist mit dem jüdischen Filmemacher Jed Rothstein verheiratet. «Good Talk» ist ihre erste Comic-Arbeit. Die gezeichneten Figuren sind mittels Collagetechnik in fotografische Szenen montiert. Es ist Autobiografisches, in dem nicht ohne Ironie Ernsthaftes verhandelt wird: Familie, Hautfarbe, Identität in den USA von den 70ern bis in die Gegenwart.
Mira Jacob
Good Talk. Erinnerungen in Gesprächen
368 Seiten
(Carlsen 2022)
Buch
Die Erinnerungen der Grossmutter über das Leben im Stalinismus, im Krieg, in der Verbannung, erzählt und gezeichnet von der Enkelin: Die russische Künstlerin Olga Lawrentjewa (*1986) breitet ein historisches Panorama mit Menschen mehrerer Generationen aus, berichtet von Willkür, Unrecht, Gewalt, wie es vor allem ihr Urgrossvater erlitten hat. Ein persönlicher Geschichtscomic in eindringlichen düster-schwarzen Tuschebildern, der gerade heute aktuell wirkt.
Olga Lawrentjewa
Surwilo – Eine russische Familiengeschichte
312 Seiten
(avant-verlag 2022)
Buch
Die Spanierin Núria Tamarit (*1993) knüpft in ihrem preisgekrönten Comic «Toubab» an eigene Erfahrungen an: Sie hatte im Jahr 2017 selber an einem humanitären Hilfseinsatz im Senegal teilgenommen. In ihrer farbigen Geschichte lässt sie die junge Mar mit ihrer Mutter nach Afrika reisen. Mar vermisst das Internet, dafür begegnet sie einer ganz anderen Welt. Die Menschen hier leben in einer Gesellschaft der Gemeinschaft und halten Werte wie Toleranz und Offenheit hoch.
Núria Tamarit
Toubab – Zwei Münzen
128 Seiten
(Reprodukt 2022)
Buch
Die US-Germanistik-Professorin Priscilla Layne ist die Protagonistin in «Rude Girl» der deutschen Zeichnerin Birgit Weyhe (*1969). Im Comic heisst sie Tina. Die Geschichten sind den wahren Begebenheiten eines ungewöhnlichen Lebens nachempfunden: Wie Tina als Afroamerikanerin mit karibischen Wurzeln gegen die Elterngeneration rebelliert, sich ihr lockiges Haar zur Skinhead-Frisur scheren lässt, Ska und Punk hört – und via Bert Brecht zur deutschen Literatur findet.
Birgit Weyhe
Rude Girl
312 Seiten
(avant-verlag 2022)