Doch, doch, die Schweiz ist ein ganz spezielles Land – ein Sonderfall, wo sich Gegensätze ignorieren und anziehen. Hier, wo man sich traditionellerweise auf Normalität, Ruhe und Ordnung beruft, regiert Friedrich Glausers Matto, spriessen auf dem gleichen Feld die sonderbarsten Blumen. Zwischen Zürichs Burghölzli, der Berner Waldau und Genfs Bel-Air gibt es wohl die weltweit höchste Dichte an Psychiatrischen Praxen und Sanatorien. Hier wurde 1916 Dada erfunden, eine Bewegung, die sich der kollektiven «Enthirnung» verschrieb. Und nicht erst die Dadas des Ersten Weltkriegs waren aus den Fugen geratene Kinder der Schweiz. Im hiesigen Reizklima liefen bereits im Jahre 1818 Mary Shelleys Synapsen heiss. Wie unter Elektroschock schuf die Autorin Frankensteins modernen Prometheus als radikalen Outsider. Und natürlich hat schon Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr von anno 1781 Schweizer DNA. Selbst der luzide Nationaldichter Dürrenmatt schaute vom Neuenburger Hausberg in den Nachthimmel hoch und auf die psychiatrische Klinik Préfargier hinunter, kraulte seinen Schäferhund, dachte nach, steckte dann die Physiker ins Irrenhaus und den Rest der Schweiz ins Gefängnis.
Expedition in die Sphäre ausserhalb der Normen
Dieses sonderbare Land bietet einen fruchtbaren Nährboden für jene Art von Gegenkultur, wie sie Jean Dubuffet und André Breton vorgeschwebt haben musste, als sie 1948 in Paris ihre Compagnie de l’Art Brut gründeten. Die zwei interessierten sich für subversive, alternative Kunstformen. Dazu zählte auch die «Bildnerei der Geisteskranken», wie sie die gleichnamige epochale Schrift des Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn schon 1922 ins Bewusstsein einer interessierten Öffentlichkeit gerufen hatte. Der malende Weinhändler Dubuffet und Breton als Papst der magischen Traumdeuter versuchten, im Herbst ihrer Karrieren den eigenen intellektuellen Bürgerschreck-Chic zu knacken. Sie wollten die bis heute bestehende Kluft zwischen Künstlern und Publikum überwinden und dabei nicht zuletzt den Surrealismus vor der definitiven Gemütlichkeit der Salons retten. So lernten sie dank der Kunst von Aussenseitern noch einmal eine Fremdsprache, eine ungebändigte, bisweilen ungelenke, die ohne wertende Unterscheidung zwischen schön und hässlich gesprochen wird. Der Expedition in diese Sphäre ausserhalb der Normen gab Dubuffet den Codenamen «Art Brut». Er zeichnete ausserdem ein rundes Logo für das instinktive Kunstkonzept, das keine gemeinsame Schule begründet, und drückte ihr so seinen Stempel auf.
Aus Leidenschaft zum Sammler
Dank Dubuffet wurde die Schweiz zum Mekka der Art Brut. Die spezifische soziale und sanitäre Situation sowie persönliche Zufälligkeiten haben sie dazu gemacht. Es hätte gut auch Österreich oder Belgien sein können, das Land von James Ensors Spleen. Oder Japan oder Indien, wie die jüngeren Fährten der Art Brut aufzeigen.
Kontakte, Freundschaften, Einladungen und geschulte Neugierde liessen Dubuffet indes zwischen Basel, Bern und Welschland auf die Werke von Aloïse Corbaz, Gaspard Corpataux, Angelo Meani oder Adolf Wölfli stossen. Sie alle hatten dem Realitäts- und Existenzdruck nicht standgehalten. Im Asyl zeichneten sie vor sich hin, tischlerten oder stickten. Dubuffet definierte ihre Werke als Kunst ohne «Dressur durch Bildung und kulturelle Konditionierung». Als Kunst, die von der Kultur nichts bekommen habe und ihr auch nichts geben wolle.
Zu Beginn der 70er schenkte Dubuffet seine 5000 Arbeiten umfassende Sammlung der Stadt Lausanne. Und darum gibt es dort seit 1976 auch ein Museum zur Art Brut. Untergebracht ist es in den ehemaligen Stallungen des Château de Beaulieu, von wo aus die Genfer Bankierstochter Madame de Staël 1794 die ausser Rand und Band geratene französische Revolution höflich zur Mässigung aufforderte.
Eine Sammlung geht auf Reisen
Bis heute haben unter den mächtigen Giebelbalken der Collection de l’Art Brut rund 70 000 Werke ein Zuhause gefunden. Ein Teil von ihnen ist nun auf Schweizerreise. Nach einer ersten Station in Ascona TI zeigt das Kunsthaus Aarau die Ausstellung «Collection de l’Art Brut. Kunst im Verborgenen».
Diese oftmals hypnotisch wirkenden Werke werden einen noch lange nach dem Museumsbesuch umtreiben. Nicht zuletzt, weil diese Art nie ganz so «brut» ist, wie sie Paul Thévoz, ehemaliger Direktor der Lausanner Stiftung, zu fassen versucht hat. Ein Aussenseiter-Phänomen? Wieso der frühe Fokus auf fragmentierte oder ungebildete Charaktere? Warum sollte unvernünftige, verrückte Rebellion im Schöpferischen jenen Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten sein, deren Persönlichkeit abgetaucht ist? Gesten der Akzeptanz können auch über Ausgrenzung hinwegtäuschen.
Mehr als bloss schöner Zufall ist es wohl, dass die Ausstellungsplanung der Aargauer Direktorin Madeleine Schuppli die Art Brut unmittelbar auf den Schweizer Surrealismus folgen lässt. Damit spinnt das Kunsthaus den Surrealismus im neuen Jahr weiter, mittels einer Kunst, die zeigt, was ihn ab- und auflösen könnte. Konstant bleibt in Aarau der spezifisch schweizerische Blick. Und dieser ist ja nicht der schlechteste auf eine Welt im Wahn.
Collection de l’Art Brut. Kunst im Verborgenen
Sa, 26.1.–So, 28.4.
Aargauer Kunsthaus Aarau
Juri Steiner
Der 1969 in Zürich geborene Juri Steiner hat Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie studiert. An der Expo.02 konzipierte und realisierte er die «Arteplage Mobile du Jura». Die Stadt Zürich engagierte ihn in der Folge für die Wiederbelebung des Cabaret Voltaire, wo 1916 der Dadaismus ausgerufen wurde. 2007 bis 2010 war Steiner Direktor des Zentrums Paul Klee in Bern. Am Schweizer Fernsehen diskutierte er im «Literaturclub» und moderierte die «Sternstunde Philosophie». 2013 bis 2016 war er zudem Juror des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt. Heute ist Juri Steiner als freischaffender Kulturvermittler tätig. (fn)